Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
über das Gelände rannten, wagten sie es aufzuatmen.
»Sie haben uns anscheinend nicht gehört«, meinte Philip erleichtert, nur um gleich darauf rasch zu sagen: »Luce, es tut mir so leid für dich und deine Mutter. Was für eine schreckliche Geschichte …«
»Yvain verfügt nur über ein gutes Dutzend Knechte.« Verzweiflung stieg in Luce auf. »Damit wird es das Gut nicht lange gegen William de Thorigny verteidigen können. Ich muss zu Lord Godfrey reiten und ihn um Hilfe bitten. Das bedeutet einen Umweg von einem halben Tag und …« Er sackte in sich zusammen. »O mein Gott, ich komme ja vor morgen früh gar nicht aus der Burg hinaus … Wie konnte ich das nur vergessen?« Tränen der Hilflosigkeit und des Ärgers über sich selbst brannten ihm in der Kehle.
»Wozu hat man denn gute Freunde?« Philip rüttelte ihn aufmunternd an der Schulter. »Ich habe schon einen Weg ausgekundschaftet, auf dem du die Burg unbemerkt verlassen kannst. Nämlich über diesen Baum dort.« Er deutete in eine Ecke des Gartens, wo sich der dunkle Umriss einer Buche, deren Äste bis an die Palisadenmauer heranreichten, vor dem mondhellen Himmel abhob. »An dem ganz langen, geraden Ast unten in der Krone ist ein Seil befestigt, an dem du dich hinablassen kannst. Und eine glaubwürdige Ausrede, warum du morgen verschwunden sein wirst, wird mir auch noch einfallen.«
Die beiden Jungen rannten zu dem Baum. Ehe er sich in die Krone hinaufschwang, umarmte Luce Philip. »Danke für deine Hilfe …«
»Nun geh schon, du machst mich sonst noch ganz verlegen.« Philip grinste.
Als Luce den kräftigen, beinahe waagerechten Ast erreicht hatte, von dem das Seil baumelte, drehte er sich noch einmal kurz um und winkte dem Freund zu. Dann ließ er sich, während er sich mit den Füßen an dem Palisadenwall abstützte, an dem Wall hinab. Rasch orientierte er sich an den Sternen. Ihrem Stand nach war es gegen zwölf Uhr. Er durfte keine Zeit verlieren.
*
Ja, das war ein wirklich glücklicher Tag, und er ist in einen ebenso schönen Abend übergegangen , dachte Adela an Yvains Tafel. Robin saß auf ihrem Schoß. Ihr Kopf war an Adelas Brust gesunken, denn nach dem Essen war sie eingenickt. In der Feuerstelle glommen Holzscheite, und wegen des besonderen Anlasses brannten Bienenwachskerzen auf dem Tisch und verströmten ihren süß duftenden Rauch. Eine Magd hatte vor einer Weile die Schüssel und Teller abgeräumt und dafür eine Schale mit Äpfeln und Nüssen gebracht und den Weinkrug aufgefüllt.
Simon hatte ironisch und witzig von seinem Leben als umherziehender Sänger erzählt. Marian hatte ihm gebannt gelauscht und hin und wieder »Ahs« und »Ohs« ausgestoßen und die Hände zusammengeschlagen. Yvain hatte, wie es so seine Art war, nicht viel geredet. Aber Adela konnte ihm ansehen, dass auch er sich wohl fühlte und seine Freude an dem Abend hatte.
Nun nahm Simon einen rotbackigen Apfel aus der Holzschale und drehte ihn zwischen seinen langen, schlanken Fingern. »Da dies der erste Herbst meines Lebens ist, in dem ich eine Ernte eingebracht und die Mühsal und Plage der Feldarbeit kennen gelernt habe, werde ich ab jetzt demütig mein Haupt vor jedem Bauern neigen.« Er nickte Yvain zu, der den Gruß mit einem Heben seines Weinbechers erwiderte. »Ich hätte auch nie gedacht, dass Ochsen, die einen Pflug ziehen, dermaßen störrische Viecher sind. Wobei sie Ann besser gehorcht haben als mir …«
Draußen war plötzlich lautes, aufgeregtes Stimmengewirr zu hören. Yvain sprang auf. Während er sein Schwert von der Wand nahm, wechselte er einen raschen Blick mit Simon, der ebenfalls nach seiner Waffe griff und sich rasch erhob.
Doch noch ehe die beiden die Tür des Wohnraums erreicht hatten, sprang diese schon auf, und ein Knecht eilte auf Yvain zu. »Herr«, stieß er hervor, »Luce steht mit einer großen Zahl Bewaffneter und einem Mann namens Robert of Keevil vor dem Tor. Lord Godfrey, so sagt er, hat die Männer mit ihm geschickt.«
»Was?« Yvain hastete, gefolgt von Simon, nach draußen. Robin wachte auf. Sie spürte die Aufregung. Ganz schlaftrunken, wie sie noch war, begann sie zu weinen.
»Schhh, es ist alles gut«, redete Adela beruhigend auf sie ein, während gleichzeitig Angst in ihr hochstieg.
»Ja, meine Kleine, es gibt keinen Grund, in Tränen auszubrechen«, sagte auch Marian sanft.
Sie fassten Robin an den Händen und folgten den Männern. Draußen, vor den Ställen und Nebengebäuden, hatten sich die Knechte und
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