Die Rache der Kinder
Kinderheim lag sicher und abgeschieden nahe dem Weiler Barford St. John, südwestlich von Banbury. Das war weit genug weg vom Haus seiner Mutter, dass die Familie sicher sein konnte, dass niemand aus ihrer Welt je sehen würde,wie Laurie ins Rudolf Mann House fuhr – ganz zu schweigen davon, dass jemand Sam als Mitglied der Familie Moon hätte identifizieren können.
Laurie hasste sie nicht mehr.
Sie hasste nur noch sich selbst.
»Immerhin«, hatte Shelly zu ihr gesagt, als Sam ungefähr fünf gewesen war und Laurie ihr ein Foto seines lächelnden Gesichts gezeigt hatte, »wirst du immer wissen, dass du das Beste für ihn getan hast.«
Die Fotos, die Laurie ihren Eltern gegeben hatte, wurden nie in Rahmen gestellt wie die von Andrews oder Saras Kindern. Sams Fotos verschwanden einfach. Laurie nahm sogar an, dass ihre Eltern sie zerrissen oder verbrannten aus Angst, jemand könnte sie im Müll finden.
Deshalb hatte sie ihnen seit langem keine Fotos mehr gegeben.
Aber das war auch nicht mehr wichtig. Sie waren nicht mehr wichtig – außer dass sie Sams Rechnungen bezahlten, denn das konnte Laurie nicht, weil sie nicht auf sie gehört hatte und Anwältin oder Ärztin geworden war. Deshalb würde sie nie in der Lage sein, für ihren Sohn zu tun, was ihre Eltern für ihn taten.
Doch Sam lebte, und es ging ihm gut, und Laurie konnte ihn alle vierzehn Tage sehen.
Das war Teil der Grundregeln, die sie nach ihrer Rückkehr aus der Provence festgelegt hatten, zusammen mit dem Gesetz der »absoluten Geheimhaltung«. Sie hatten verhandelt und zunächst vorgeschlagen, dass Laurie ihn einmal im Monat sehen solle, doch mit der letzten ihr verbliebenen Kraft hatte sie sich stur gestellt, und schließlich hatten ihre Eltern nachgegeben.
Danach hatte es geheißen: »Friss oder stirb.« Und sie hatte gefressen.
Laurie war mit dem Bild zufrieden, das sie für ihren nächsten Besuch gemalt hatte. Sie konnte es gar nicht erwarten, Sams Gesichtsausdruck zu sehen, wenn er erkannte, dass es eine Erinnerung an ihren Tag auf dem Jahrmarkt in Banbury war. Sie konnte seine wunderbare Umarmung kaum erwarten.
»Sie sind so liebevoll«, sagten die Leute oft über Kinder mit dem Down-Syndrom, doch diese Leute wussten meist nur sehr wenig über die alltäglichen Probleme solcher Kinder.
Leute wie Laurie.
12. Das Spiel
Am Anfang fanden die Rollenspiele der Gruppe stets in ihrer imaginären, stark eingeschränkten Version von Goldings wilder, erfundener Insel statt. Die beiden Jungen und die beiden Mädchen wechselten weiterhin die Charaktere, bis sie glaubten, die richtige Rolle für sich gefunden zu haben. Nachdem geklärt war, wer wen spielte, warfen sie die restlichen Charaktere und den Plot weg; doch jeder von ihnen hielt sich an seiner eigenen Rolle fest, als würden sie sie dringend brauchen … so wie kleine Kinder sich manchmal an alte, zerschlissene Stoffbären klammern.
Ich finde es bemerkenswert , hatte Ralph in ihr Tagebuchgeschrieben, in dem sie ihre Beobachtungen und die Metamorphose der Kinder festhielt, wie genau ihre jeweiligen Charaktere zu ihnen passen. Und sollte einmal eine Kleinigkeit nicht passen, gleichen sie ihr wirkliches Ich dem alternativen Ich an.
Warum sie diese fiktiven Persönlichkeiten brauchten, war leicht zu erkennen: Alles war besser als ihr eigenes, echtes Leben, und obwohl Ralph offiziell keinen Grund hatte, ihre Akten einzusehen, hatte sie sich die Zeit genommen, die Unterlagen zu lesen.
Es waren traurige Geschichten. Die Vergangenheit jedes dieser Kinder war schlimmer als ihre eigene Gegenwart.
Seit ihre Freundschaft mit den Kindern begonnen hatte, hatte Ralph sich zum ersten Mal im Leben gewünscht, sie hätte mit ihren Studien weitergemacht. Vielleicht wäre sie dann Psychologin geworden, die diesen außergewöhnlichen Kindern wirklich hätte helfen können.
Doch hätte sie das getan, wäre sie vermutlich nicht zur rechten Zeit nach Challow Hall gekommen, hätte nicht ihren Lichtern folgen und sie nicht finden können.
Sie führte ihr Tagebuch so, wie ihrer Meinung nach ein ausgebildeter Psychologe es führen würde. Sie sagte sich, dass es eine Art Selbstschulung sei, was sie da tat – eine soziologische Übung. Sie versuchte, ihre eigenen Motive zu analysieren, weshalb sie sich mit den Kindern angefreundet hatte, und kam zu dem Schluss, dass ihr Handeln in keinster Weise tadelnswert sei.
Sie wollte bloß die Freundin der Kinder sein, wollte bei ihnen sein und ihre Spiele spielen –
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