Die Rache der Kinder
teils, weil es ihr mehr Spaß machte als alles, was sie bisher kennen gelernt hatte, doch größtenteils, weil sie hoffte, genau die Art von Mensch zu sein, wiedie Kinder sie an ihrer Seite brauchten: eine Erwachsene, die auf einer Wellenlänge mit ihnen war, so gut es ging.
Von Anfang an benutzte sie in ihren Aufzeichnungen um der Anonymität willen die Charakternamen – für den Fall, dass jemand das Tagebuch finden sollte. Nach einiger Zeit fiel ihr auf, dass sie an die Kinder nur noch mit diesen Namen dachte. Dabei machte sie die interessante Feststellung, wie wenig das Geschlecht der Namen bedeutete – die Mädchen hatten sich in Roger und Simon umbenannt.
Und von sich selbst dachte sie als »Ralph«.
Ralph schrieb in ihr Tagebuch:
»JACK« – Unser Junge mit dem roten Haar, den scharfen grünen Augen und dem geraden, ein wenig verkniffenen Mund. Er hatte von Anfang an Pech. Als Neugeborenen hatte man ihn in einem Einkaufszentrum in Bristol ausgesetzt; die vermutlich verzweifelte Mutter hatte nicht mal eine Notiz bei ihm gelassen. So war er von Anfang an ein Fall für die Fürsorge gewesen. Er wurde nie adoptiert; stattdessen hat er immer wieder die Pflegefamilie gewechselt. Verantwortlich dafür sind den Akten zufolge seine Verhaltensauffälligkeiten. Pflegeeltern und Sozialarbeiter beschreiben einmütig einen tief verwurzelten Zorn sowie die Unfähigkeit, zu lieben oder geliebt zu werden – die angebliche Unfähigkeit. Ich bin nicht überzeugt davon.
»SIMON« – Unser Mädchen ist sanft und hübsch, doch es heißt, sie neige zu Depressionen. Ihre frühe Geschichte war schrecklich, sogar schon vor der Geburt. Ihre minderjährige Mutter hatte furchtbare Angst, ihre gewalttätigen Eltern könnten esherausfinden, wenn sie sich um eine Abtreibung bemühte, und so schlug sie sich wiederholt selbst in der Hoffnung, den Fötus auf diese Weise zu töten. Aber das Kind hat überlebt – Simon hat überlebt. Sie wurde mit inneren Verletzungen geboren und musste sofort operiert werden. Anschließend hat ihre elende Mutter Selbstmord begangen und ein schriftliches Geständnis hinterlassen. Simons Narben sind unsichtbar, doch ihr Erbe ist eine furchtbare Last für sie. Dr. Lindo zufolge hat sie Angst, ein schlechter Mensch zu sein.
»PIGGY« – Als unser Junge drei Jahre alt war, sind seine Eltern wegen Kindesmisshandlung für zehn Jahre ins Gefängnis gekommen (es hätte lebenslänglich sein müssen). Seine kleine Schwester wurde adoptiert; er jedoch kam in ein Pflegeheim. Gemeinhin wird er als eher ruhig beschrieben, doch mit gelegentlichen Temperamentsausbrüchen, gefolgt von tiefer Scham. Wenn es darum geht, Schuld zu verteilen, gibt Piggy sie meist sich selbst. Er ist spindeldürr und hat Sommersprossen. Er ist nicht besonders hübsch, aber hässlich ist er ganz gewiss nicht. Und er hat ein gutes Herz.
»ROGER« – Sie ist mit sieben Jahren in die Fürsorge gekommen, da ihre allein erziehende Mutter sich einer Chemotherapie unterziehen musste und deshalb keine Zeit für zwei Kinder hatte. Ihr Halbbruder ist zu seinem Dad gezogen, doch Roger hatte niemanden. Ihre Mutter hatte Angst, dass eine Pflegefamilie ihr mehr geben könnte, als sie es je vermocht hätte, und so ist das Kind in Challow Hall gelandet. Ihrer Akte zufolge hat Roger keinerlei emotionale Reaktion gezeigt, als sie vom Tod ihrer Mutter erfuhr, obwohl in einer Notiz etwas von einer »Zurschaustellung von Trauer« im Beerdigungsinstitut steht – als hätte man ihr das nicht geglaubt. Tatsächlich kann man aber durchaus sagen, dass unsere Roger eine hervorragende Schauspielerin ist.
Im Laufe der Zeit, als Ralph die sich entwickelnden Spiele der Kinder beobachtet und selbst daran teilgenommen hatte, hatte sie mehr über das Band zwischen den vieren erfahren, das sich bereits entwickelt hatte, ehe das Rollenspiel ihr gegenseitiges Vertrauen und die Abhängigkeit voneinander förderte. Vieles von dem, was sie gemeinsam hatten, teilten sie mit anderen Kindern in Challow Hall und mit den Kindern in anderen Heimen – Kinder, die ihre Verbitterung gegenüber Autoritätspersonen nährten, gegenüber Gutmenschen und Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – dafür verantwortlich waren, dass die Kinder im Heim saßen.
Diese vier jedoch, schrieb Ralph in ihr Tagebuch, scheinen besonders starke Gefühle entweder für oder gegen ihre Mütter zu haben. Egal, ob es um ihre eigenen Mütter geht, ihre Pflegemütter oder schlechte Mütter
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