Die Rache der Kinder
ergehen, wenn sie sich trennen mussten?
Laurie wusste zumindest eines: wie sie sich dann fühlen würde.
Sie erinnerte sich an einen Besuch, der schlimm begonnen hatte, weil Sam beim Frühstück schlecht geworden war, doch Laurie hatte den ganzen Tag bei ihm gesessen. Auf gewisse Weise war das zu einer sehr glücklichen Erinnerung geworden, denn Sam hatte an jenem Tag wirklich eine Mutter gebraucht, und sie war tatsächlich für ihn da gewesen … obwohl sie natürlich wusste, dass andere im Heim Sam genauso gut hätten helfen können, wenn nicht sogar besser. Schließlich war sie nur Amateurin.
Aber die anderen waren nicht Sams Mutter.
Die blöde Kuh war auch an jenem Tag da gewesen und hätte Laurie beinahe alles versaut.
»Das haben Sie genossen, nicht wahr?«, sagte sie zu Laurie, als diese gerade gehen wollte.
»Ich habe es bestimmt nicht genossen, dass mein Sohn krank ist, das können Sie mir glauben.« Nur mit Mühe hatte Laurie die richtigen Worte gefunden. »Ich bin nur froh, dass ich hier bei ihm sein konnte.«
Und die blöde Kuh hatte bloß gelächelt, mit den Schultern gezuckt und sich umgedreht.
Nur noch dreizehn Stunden und fünfzig Minuten, bis sie Sam wiedersehen würde.
Bald war Essenzeit im Haus der Moons.
An den Abenden vor den Besuchstagen war die Atmosphäre beim Essen jedes Mal angespannt. Niemand fragte nach Lauries Plänen fürs Wochenende. Acht Jahre waren seit Sams Geburt vergangen, und ihre Eltern waren noch immer dieselben.
Natürlich liebte Laurie ihre Eltern nach wie vor, doch an diesen Freitagabenden hasste sie die beiden genauso wie die blöde Kuh – sogar noch mehr, wenn sie ehrlich war.
Noch dreizehn Stunden und fünfundvierzig Minuten.
16. Das Spiel
Ralph saß in ihrem Wintergarten. Verwelktes Laub fiel um sie herum zu Boden und fuhr bei einem plötzlichen Windstoß wieder hoch. Aus der Ferne sah es aus, als würde sie inmitten eines Wirbels sitzen, im Auge eines kleinen Tornados, doch sie war vollkommen still.
Ralph dachte an sie.
Dachte an das neue Spiel.
Dachte an das andere, frühere Spiel, das sie davon abhielt, nun bei ihnen zu sein – sie würde nie wieder bei ihnen sein.
Einige Blätter landeten auf ihrem Kopf; die Stängel verfingen sich in ihrem Haar. Der Wind flaute ab, und die Blätterblieben, wo sie waren, und bildeten eine verschlungene goldene Krone.
Der Häuptling.
Es war während ihres dritten gemeinsamen Jahres geschehen, als die Kinder ungefähr dreizehn und Ralph dreiunddreißig gewesen war.
Es waren schon lange keine kindlichen Spiele mehr; dafür waren sie längst zu hart geworden. Sie wechselten sich noch immer damit ab, ein Monster zu nominieren und ihn oder sie zu bestrafen, doch wann immer möglich spielten sie nicht länger das Monster, sondern nahmen sich echte Ziele vor.
Es war Rogers Idee gewesen, das Spiel auf diese neue Ebene zu heben.
»Das ist zu gefährlich«, war Piggys erste Reaktion gewesen.
»Wir könnten erwischt werden«, hatte Simon ihm zugestimmt.
»Werden wir aber nicht«, entgegnete Roger.
»Nicht, wenn wir es ordentlich planen«, hatte Jack sie unterstützt.
Und es ordentlich zu planen bedeutete, das Monster von Außenseitern zu isolieren, im Schutz der Dunkelheit zu spielen und Kriegsbemalung anzulegen, wie auch die Kinder in dem Roman es getan taten, aus dem sie ihre Inspiration bezogen hatten: die Gesichter mit Schwarz und mehreren Schichten bunter Farbe beschmiert, um ihr Ziel zu verwirren, ihm Angst einzujagen, und vor allem, um nicht erkannt zu werden.
Sie achteten sorgfältig darauf, nicht erwischt zu werden. Doch es war weniger die Polizei oder andere Behörden, vordenen sie sich fürchteten – es war die schreckliche Vorstellung, getrennt zu werden.
»Das könnte ich nicht ertragen«, sagte Piggy.
»Ja, das wäre brutal«, pflichtete das Mädchen mit Namen Roger ihm bei.
»Es wäre grauenhaft«, sagte Jack.
»Das dürfen wir nicht zulassen«, sagte das Mädchen, das sie Simon nannten. »Niemals.«
»Das wird auch nicht passieren«, erklärte Jack. »Nicht, wenn Ralph uns hilft.«
»Wenn«, sagte Piggy.
»Sie hilft uns immer«, entgegnete Roger.
Das stimmte. Ralph wusste, dass sie irgendwann zur Kreatur der Kinder geworden war und nicht mehr nur ihre Beschützerin darstellte. Ihre Beziehung zu den Kindern mochte ja aus einer gewissen Faszination heraus begonnen haben, doch inzwischen war es zu einer Sucht geworden.
»Ich weiß nicht recht …«, hatte Ralph gesagt, als die Kinder ihr zum
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