Die Rache der Kinder
verschwendet. Sie hatte die letzte Gelegenheit weggeworfen, ihr Kind zu umarmen und ihm zu sagen, dass sie es liebte.
Pete hatte ihr von seinem spätabendlichen Besuch in Lauries Zimmer erzählt, von ihrem kurzen Gespräch und dem flüchtigen warmen Gefühl zwischen ihnen, das nun zu seiner wertvollsten Erinnerung geworden war. Als Pete es ihr erzählt hatte, war Shelly so eifersüchtig gewesen, dass sie ihn eine Zeitlang geradezu hasste; dann aber hatte sie erkannt, dass er diese Erinnerung nur mit ihr geteilt hatte, weil er sie wissen lassen wollte, dass Laurie ihr Heim glücklicher verlassen hatte, als sie glaubte.
»Es war nicht deine Schuld, dass du schon geschlafen hast«, beruhigte er sie.
»Das vielleicht nicht, alles andere aber schon.«
»Und auch meine«, hatte Pete gesagt.
Doch so groß ihre Scham auch sein mochte – erst als Angela aus der Provence gekommen war, erreichte sie ihren Höhepunkt.
Erst trauerte Shellys Schwester ohne einen Vorwurf mit ihnen, doch dann traf sie sie mit ein paar präzisen, bösen Worten mitten ins Herz:
»Was immer ihr Sam sagen wollt, ich werde euch unterstützen.«
Sie sahen einander an und schwiegen.
»Wenn ihr so tun wollt, als wäre Laurie nicht mehr mit allem fertiggeworden, werde ich keinem etwas anderes sagen«, erklärte Angela. »Für mein armes Täubchen macht das jetzt ohnehin keinen Unterschied mehr.«
Im Grunde ließ sie ihnen keine Wahl – nicht mit neun Jahren Schuld, die sie ohnehin zu ersticken drohte und mit jedem Tag schlimmer wurde.
»Was wollt ihr jetzt mit Sam machen?«, hatte Angela einen Tag später gefragt.
»Ich habe nachgedacht«, antwortete Pete.
»Das habe ich nicht anders erwartet«, sagte Angela.
Andrew, ihr Sohn, war zwar auch da, schwieg aber wie immer zu diesem Thema. Angela hatte ihn vor längerer Zeit einmal darauf angesprochen, dass seine Schwester gezwungen war, getrennt von ihrem Sohn zu leben, doch er hatte sie einfach abgewimmelt.
Angela war nicht sicher, ob er mit Pete auf einer Welle schwamm oder ob er zu erschüttert war, um die Wahrheit auch nur auszusprechen.
»Wir haben überlegt, ob wir ihn nach Hause holen sollten«, sagte Shelly.
»Sollten«, echote Angela. »Es ist ein bisschen spät für sollten , meint ihr nicht?«
Mit ihrem Blick kreuzigte sie beide.
»Wir wollen tun, was Laurie gewollt hätte«, sagte Pete.
»Was Laurie gewollt hätte«, entgegnete Angela, »war, Sam bei sich zu haben, als sie noch gelebt hat.«
»Aber auch für ihn«, flüsterte Shelly mit trauriger Stimme. »Besser spät als nie.«
»Ihr hängt euer Fähnchen wirklich nach dem Winde«, bemerkte Angela.
»Hör auf damit, Tante Angie«, mischte Andrew sich mit hochrotem Kopf ein. »Es gibt keinen Grund …«
»Ist schon gut«, unterbrach Pete ihn.
»Ich nehme an, Angie will damit sagen«, Shelly versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, »dass Sam im Rudolf-Mann-House vielleicht besser dran wäre. Schließlich ist er das gewohnt.«
»Ich will damit sagen, er ist dort besser dran als mit euch«, sagte Lauries Tante.
Sie erinnerte sich jeden Tag und jede Nacht noch allzu gut an die Exilschwangerschaft ihrer Nichte, und das war auch der Grund für das unverzeihliche Verlangen, es den Leuten heimzuzahlen, die dafür verantwortlich waren.
Soweit es sie betraf, galt: je grausamer, desto besser.
Shelly war nicht sicher, was unerträglicher war: Laurie vor zwei Monaten in der Leichenhalle zu sehen oder das hier.
Den Sarg ihrer Tochter, wie er ins Grab hinuntergelassen wurde.
In der Leichenhalle hatte sie sie wenigstens sehen können. Laurie war dort gewesen, nur einen Schritt von ihr entfernt, und hatte vollkommen friedlich gewirkt. Sie hatte nicht in einer Kiste gelegen, auf deren Deckel nun Erde fiel.
Abrupt hob Shelly den Blick und sah Kate Turner in angemessener Entfernung stehen, als wüsste sie, dass ihre Anwesenheit schmerzlich für die Familie sein könnte.
Sie hatte ja keine Ahnung .
Auch Sam war da. Er stand zwischen Pete und einer Frau vom Rudolf Mann House, die einen Arm um seine Schulter gelegt hatte. Es schien ihm zu gefallen.
Er weinte ein paar Minuten, als man den Sarg seiner Mutter ins Grab ließ, als würde er verstehen, was geschah, und die Frau reichte ihm ein Taschentuch, um sich zu schnäuzen.
Hinterher sprach die Frau mit ihnen.
»Im Rudolf Mann House lieben wir Ihren Enkel sehr«, sagte sie.
Sam lächelte Shelly liebevoll an, doch sie wusste, dass dieses Lächeln keine Bedeutung hatte. Es galt nicht
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