Die Rache der Kinder
herum. Ihre Eltern, andere Leute. Abby Wells war aus Brüssel gekommen. Freunde waren da, Kollegen. Richard Fireman war erschienen, die Polizei, Martin Blake, Nachbarn, an die sie sich kaum erinnerte … Alle wollten ihr helfen und behandelten sie ausgesprochen behutsam.
Kate hasste sie alle. Sie wollte nur eins: dass die Leute verschwanden.
Sie sollten sie allein lassen mit dem, was von Rob übrig war.
Sie und Rob waren erst so kurze Zeit wieder zusammen gewesen, und doch hatte Kate schon das Gefühl gehabt, als wäre er nie fort gewesen. Sein Wesen war wieder in das Haus eingegangen; deshalb mussten sie alle hier weg , damit sie sich daran festhalten konnte, solange es noch da war.
Damit sie ihn festhalten konnte.
Bel war die ganze Zeit da. Sie schlief im Haus, machte Kate Frühstück, Mittag- und Abendessen und versorgte sie auf eine Art und Weise, wie sie es aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte.
»Ich würde das lieber selbst tun«, sagte sie.
»Dafür ist später immer noch Zeit«, erwiderte ihre Mutter.
»Bel tut das gut, Kate«, sagte ihr Vater. »Solange du es ertragen kannst, wäre es nett, wenn du sie gewähren lässt.«
»Ja«, erwiderte Kate. »Natürlich.«
Ja, warum sollte sie das alles nicht für sich tun lassen?, dachte sie träge. Warum sollte sie ihre Mutter kein Essen kochen lassen, auch wenn sie es nicht aß? Warum sollte sie sich nicht von ihr ins Bett bringen lassen, obwohl sie nicht schlief? Warum sollte sie keine Besucher empfangen, denen sie nicht zuhörte?
Bel und Michael übten keinerlei Druck auf Kate aus, bis es an die Beerdigungsvorbereitungen ging.
»Macht es so, wie ihr es wollt«, sagte Kate schlicht.
»Das geht auch dich an, Kate«, entgegnete Bel.
»Wir möchten auch in deinem Sinne handeln«, erklärte Michael. »Für Rob.«
»Er bekommt es doch sowieso nicht mit«, sagte Kate.
Das Gefühl von Robs Gegenwart, an das sie sich so verzweifelt klammerte und mit dem sie allein sein wollte, verflüchtigte sich allmählich. Tatsächlich war es fast schon verschwunden, vertrieben von all den liebenden, wohlmeinenden Leuten. Schon bald würde nichts mehr von ihm übrig sein.
Die Beerdigungsvorbereitungen bedeuteten ihr gar nichts.
Das waren bloß Rituale.
83. Kate
Marie Coates, die Frau von Robs Schule, die ihm den ehrenamtlichen Job auf Lambsmoor Farm vorgeschlagen hatte, besuchte Kate eine Woche nach der Beerdigung.
Es war Ende September, und Kate war allein. Bel war vor zwei Tagen endlich wieder nach Hause gefahren.
»Ich wollte mich vorher nicht aufdrängen«, sagte Marie Coates, nachdem Kate ihr mit dem Rollstuhl über die Schwelle und ins Wohnzimmer geholfen hatte.
Marie Coates war Anfang fünfzig, schätzte Kate. Sie hatte schwarz-graues Haar und scharfe graublaue Augen. Über einem altmodischen Tweedrock, der ihr bis über die Knie reichte, trug sie einen kornblumenblauen Pullover.
»Nein, nein, Sie drängen sich nicht auf«, erwiderte Kate höflich.
Sie lief sozusagen noch immer auf Automatik. Sie gestattete sich nicht, über ihren Verlust nachzusinnen oder allzu lange an all die Monate zu denken, die sie in ihrem letzten gemeinsamen Jahr verschwendet hatten. Besucher kamen, gingen aber rasch wieder, entmutigt von der unsichtbaren, jedoch massiven Wand, auf die sie trafen. Vielleicht hatten die Leute Angst, dass ausgerechnet sie es sein würden, die die Mauer durchbrachen und zu der aufgestauten Trauer dahinter vorstießen.
»Ich bin auch nicht zur Beerdigung gekommen«, fuhr Marie Coates fort, »weil ich mir gedacht habe, dass ich so ziemlich die Letzte bin, die Sie sehen wollen.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Kate. »Sie und Rob waren Freunde.«
»Aber es war meine Schuld«, sagte die andere Frau. »Deshalb bin ich hier. Ich wollte Sie um Verzeihung bitten.«
»Es war ein Unfall«, sagte Kate.
»Aber Rob wäre nicht dort gewesen, hätte ich ihn nicht dazu überredet«, entgegnete Marie Coates.
Da hatte sie recht.
»Er wollte selbst gehen«, sagte Kate.
Unfreundlichkeit würde ihn auch nicht zurückbringen, dachte Kate; außerdem war es sein eigener Wunsch gewesen.
»Hat man Ihnen auch erzählt«, fragte die ältere Frau, »dass ich es war, der Rob helfen wollte, als es geschehen ist?«
Kate wünschte sich, die Frau würde aufhören, denn ihre Höflichkeit war nur Fassade. Seit sie gehört hatte, dass Robs Leib durch seinen Mut zerquetscht worden war, hatte sie sich immer wieder gewünscht, nicht er wäre gestorben, sondern diese
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