Die Rache der Kinder
Frau.
»Sie dürfen sich keine Schuld daran geben«, brachte sie mühsam hervor.
Das waren definitiv die letzten Reste an Freundlichkeit, die sie aufbringen konnte.
Und dann, plötzlich, fiel ihr auf, dass Marie Coates ihr irgendwie bekannt vorkam.
»Sind wir uns schon mal begegnet?«, fragte sie.
In der Schule vielleicht? Obwohl sie nur selten dort gewesen war – es war nicht ihre Gewohnheit gewesen, Rob von der Arbeit abzuholen. Außerdem arbeitete Marie Coates ja im Schulbüro, weshalb sie vermutlich andere Arbeitszeiten hatte alsRob. Also war es sogar noch unwahrscheinlicher, dass Kate sie dort getroffen hatte. Und dennoch …
»Ja, wir sind uns einmal kurz begegnet«, antwortete die Frau. »Beim Treffen einer Selbsthilfegruppe in Reading vor ein paar Monaten.«
Kate erinnerte sich. »Sie waren die Organisatorin, als …«
»Als eines unserer Mitglieder sich Ihnen gegenüber schlecht benommen hat.«
»Und Sie haben eingegriffen«, sagte Kate. »Ich glaube, ich habe Ihnen dafür noch gar nicht gedankt.«
»Das war mein Job«, sagte Marie Coates. »Nicht der Rede wert.«
Da fiel es Kate auf. Bis jetzt hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet. Sandi West war ebenfalls auf der Beerdigung gewesen und hatte kurz mit ihr gesprochen. Nun erinnerte Kate sich erstaunt daran, dass sie nicht den geringsten Groll gegen sie verspürt hatte; dabei reichte normalerweise schon Sandis Anblick, um Kate in Wut zu versetzen. Gleiches galt für Delia, die natürlich auch dort gewesen war. Andererseits hatte Kate an jenem Tag so gut wie nichts empfunden – und falls doch, dann nur für Rob.
Höflich bot Kate ihrem Gast eine Tasse Tee an. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht mehr, dass diese Frau schnellstens wieder verschwand.
»Meine Mutter sagte mir, dass Sie Mary heißen«, bemerkte Kate.
»Unter diesem Namen kennt mich Bel«, erklärte Marie Coates. »Ein anderes Mitglied hat mich beim ersten Mal Mary genannt. Ich wollte sie nicht korrigieren, und so ist der Namehängen geblieben.« Sie lächelte. »Es erschien mir nicht wichtig.«
Erstaunt stellte Kate fest, dass sie diese Frau mochte. Sie verstand nun auch, warum Rob sie bewundert hatte: Ihr Geschick mit dem Rollstuhl und ihr Verhalten ließen ihre Behinderung kaum auffallen. Marie Coates wirkte ruhig und heiter und erweckte den Eindruck einer Frau mit gesundem Menschenverstand. Außerdem schien sie aufrichtig zu sein, weshalb sie wohl auch so gut mit Kindern zurechtkam.
»Ihre ehrenamtliche Arbeit muss sehr befriedigend sein.«
»Ja, sehr«, bestätigte Marie. »Rob hat mir erzählt, Sie mögen keine Pferde?«
»Oh, aus der Ferne mag ich sie schon. Ich habe nur eine Heidenangst davor, auf eins zu steigen.«
»Da sind Sie nicht die Einzige«, sagte die ältere Frau.
»Hätte ich nicht so viel Angst«, sagte Kate, »wäre ich an dem Tag vielleicht bei Rob gewesen.«
»Und er wäre nicht mit mir ausgeritten.«
Kate schüttelte den Kopf. »Solche Gedanken führen zu nichts.«
»Ja, da haben Sie wohl recht«, bestätigte Marie.
Sie sprachen eine Zeitlang über Rob, und Kate erkannte, wie sehr diese Frau Rob gemocht hatte. Das wärmte ihr das Herz. In letzter Zeit war das Haus voller Leute gewesen, die Rob sowohl gemocht als auch respektiert hatten, doch keinem von ihnen war es gelungen, Kates emotionalen Schutzschild zu durchdringen. Aber wie Rob schon gesagt hatte, Marie Coates hatte etwas Besonderes an sich.
»Ich hoffe, Sie wissen«, sagte die ältere Frau voller Sanftheit, »wie glücklich Sie ihn gemacht haben.«
Das hatten ihr auch schon andere gesagt, doch in diesem Fall trafen die Worte Kates Innerstes und ließen die Tränen fließen.
»Tut mir leid.« Sie wischte sich die Augen.
»Unsinn«, sagte Marie Coates.
»Bis jetzt habe ich kaum geweint«, erklärte Kate, und das war die Wahrheit.
»Dann lassen Sie es raus«, sagte Marie sanft. »Sie werden ihn schon nicht verlieren.«
Während sie weinte, fragte sich Kate, woher diese Fremde wusste, dass dies tatsächlich einer der Gründe war, dass sie ihre Gefühle bisher im Zaum gehalten hatte. Sie hatte Angst, es könnte sich noch mehr von Robs Essenz verflüchtigen, falls ihre emotionale Mauer Risse bekam. Natürlich war diese Angst irrational, doch Kate klammerte sich eisern an den letzten, kostbaren Rest von Rob in ihrem Herzen.
Doch da war noch etwas, woran sie sich die ganze Zeit festgehalten hatte: Es war ein Geheimnis, ihres und Robs, obwohl er es davor nicht gekannt hatte.
Nun
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