Die Rache des Samurai
quer zu stellen. Der Wind von vorn blähte das Tuch und schob das Boot nach rechts – zu kräftig. Das Boot krängte bedrohlich. Sano stockte das Herz, als er wieder an der Leine zog und das Segel zur anderen Seite schwenkte, wobei er sich mühte, auf den nassen, schlüpfrigen Decksplanken festen Stand zu wahren.
»Ich werde Euch töten!« erklang Yanagisawas kreischende Stimme aus der Kajüte.
In dem Augenblick, als Sano schon damit rechnete, daß das Boot kenterte, stellte es sich wieder aufrecht. Doch Sanos nächster Versuch, die Fahrtrichtung zu ändern, erbrachte das gleiche Ergebnis und wäre um ein Haar wieder mit einer Katastrophe geendet. Sano erkannte, daß er die Fahrtrichtung langsam und behutsam ändern mußte. Wieder schwenkte er das Segel herum, stellte es diesmal weniger steil in den Wind. Erneut legte das Boot sich auf die Seite, wendete diesmal aber und blieb auf Kurs. Der Bug drehte sich in Richtung Westen, und das dahinjagende Boot näherte sich langsam dem Ufer. Bald darauf sah Sano durch den Regenschleier die Lagerhäuser und Anlegestellen Edos vor sich auftauchen. Dann hörte er über die Schreie Yanagisawas hinweg andere Rufe. Voraus sah er winzige Gestalten, die ihm aus den Türen von Lagerhäusern zuwinkten. Ein Mann löste sich aus einer Gruppe und rannte hinaus auf die Anlegestelle, wo er auf und ab sprang. Als Sano Hirata erkannte, lachte er voller überschwenglicher, freudiger Erleichterung. Das Boot fuhr nun in Querrichtung auf Hirata zu. Sano wartete, bis er sich der Anlegestelle genähert hatte; dann ließ er die Segeltaue los.
Das Boot drehte sich flußabwärts und trieb auf die Kaimauer zu. Dann krachte der Bug gegen mehrere kleine Boote, die dort vertäut waren; der Rumpf schrammte noch ein Stück die Kaimauer entlang; dann kam das Boot zum Stehen. Immer noch tobte das Unwetter um Sano herum, doch die Welt stand für einen Moment still.
Mit einemmal wimmelte es an Deck von Männern: ein dōshin mit seinen Helfern; zwei Schiffsleute mit breiten Hüten und Regenumhängen aus Stroh; Yanagisawas Gefolgsleute. Die Schiffsleute vertäuten das Boot an der Anlegestelle und ließen den Landesteg hinunter. Die Polizei löste Chūgos Fesseln und führte den Hauptmann davon, der inzwischen wieder bei Bewußtsein, aber noch immer benommen war. Die Gefolgsleute Yanagisawas stürmten in die Kajüte.
» Sōsakan-sama !« Hirata rannte auf Sano zu, strahlend vor Freude und Aufregung. »Ihr habt es geschafft! Ihr habt den bundori- Mörder gefaßt! Kommt, gehen wir.«
Plötzlich war Sano zu schwach, um auf den eigenen Beinen zu stehen. Er ließ sich von Hirata den Landesteg hinunterführen.
»Sano Ichirō!«
Sano drehte sich um und sah den Kammerherrn Yanagisawa aus der Kajüte kommen, von zweien seiner Gefolgsleute gestützt.
»Dafür werdet Ihr bezahlen, Sano Ichirō!« schrie Yanagisawa schrill und schüttelte die Faust. Blaß, zerschunden und von wildem Zorn erfüllt, sah er wie ein verrückter Dämon aus einem der Nō-Stücke des Shōgun aus. »Ich schwöre es! Dafür werdet Ihr bezahlen!«
Doch Sano nahm die Drohungen des Kammerherrn kaum noch wahr, als eine Sehnsucht, die er im Strudel der Ereignisse vergessen hatte, sein Inneres erfüllte.
»Aoi«, flüsterte er.
36
E
inen Monat nach der Gefangennahme des bundori- Mörders herrschte im Bankettsaal des Shōgun ausgelassene, lärmende Fröhlichkeit. Laternen erhellten den riesigen Raum und den Garten, der durch die geöffneten Schiebetüren zu sehen war; die warme Brise eines Sommerabends wehte sanft in die Halle. Den farbenprächtig gekleideten Männern, die sich in lachenden und scherzenden Gruppen auf seidenen Kissen ausgestreckt hatten, wurden von schönen Dienerinnen und Dienern Erfrischungen gereicht. Andere Gäste schlenderten durch den Saal und schenkten einander Reiswein ein, dem üblichen gesellschaftlichen Ritual entsprechend. Auf der Veranda trugen Musikanten Lieder aus den Lieblingsstücken des Shōgun vor. Tokugawa Tsunayoshi, der auf seinem Podest saß, nahm eine theatralische Pose ein und sang:
»Ich bin ein Wanderer auf der Reise durchs Leben,
Wer weiß, wann die Reise enden mag…«
Die Mitglieder des Ältesten Staatsrates, Kammerherr Yanagisawa und Shichisaburō, der Schauspieler im Knabenalter, welche die Ehrenplätze gleich unterhalb des Podests belegten, lachten und spendeten Beifall.
Sano saß allein in einer Ecke, niedergeschlagen und voller Trauer ob der bitteren Erfahrungen, die er nach der
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