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Die Rache des schönen Geschlechts

Titel: Die Rache des schönen Geschlechts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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ein Paar Bergstiefel aus einem Schuhregal, zog sie an, legte Livia in der Küche einen Zettel hin: >Bin spazierenc, zog sich eine Art dicken Wollstrumpf mit Bommel über den Kopf, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Bevor er losmarschierte, vergewisserte er sich, dass er Zigaretten und Feuerzeug in der Anoraktasche hatte. In der anderen Tasche waren ein Paar Handschuhe, die er sich überstreifte. Nachdem er eine halbe Stunde gelaufen war und bei jedem Schritt spürte, wie seine Lungen sich dehnten, stieß er auf eine Weggabelung, und er entschied sich für den rechten Pfad. Er führte bergauf, aber Montalbano war nicht müde, im Gegenteil, er hatte sogar das Gefühl, an Gewicht zu verlieren, sein Körper und sein Geist wurden leicht. Hier gab es keine Bäume mehr, nur noch Felsen. Irgendwann setzte er sich, bevor es um eine Kurve weiterging, auf einen großen Stein, um die Aussicht zu genießen. Er holte die Zigaretten aus der Tasche, steckte sich eine an, zog zweimal daran und trat sie wieder aus. Er hatte keine Lust zu rauchen. Als er auf die Uhr sah, staunte er. Anderthalb Stunden war er schon gelaufen, und er hatte es gar nicht gemerkt. Er sollte lieber umkehren, womöglich machte Livia sich Sorgen, wenn er so lange fortblieb. Doch bevor er sich an den Abstieg machte, wollte er noch ein paar Schritte gehen, nur noch die eine Kurve, hinter der ein Teil der Landschaft verborgen lag. Und mit einem Mal war alles anders. Hier präsentierte sich das Gebirge, wie es wirklich ist, so rau, hart, streng, dass man Furcht und Respekt empfindet. Der Weg wurde unangenehmer, schmal, wie er war zwischen der Felswand und einer
    Schlucht, die steil in die Tiefe abfiel. Montalbano war nicht schwindlig, aber bei diesem Anblick drängte er sich unwillkürlich gegen die Wand. An den Fels gelehnt, betrachtete er die Berggipfel, die kleinen Häuser unten im Tal, die wie Würfel aussahen, die Mäander eines Flusses, der bald auftauchte, bald verschwand. Schön war das schon, gar keine Frage, aber er fühlte sich mit einem Mal fremd, wie ein unbeholfener Außerirdischer, den eine ihm unbekannte Welt verwirrt. Er wandte sich ab, um die Kurve zurückzugehen und nach Hause zu laufen, doch dann zögerte er. Er glaubte, eine menschliche Stimme gehört zu haben. Was die Stimme sagte, hatte er nicht verstanden, aber ihr verzweifeltes Zittern war zu ihm gedrungen. Angespannt lauschte er. »Bit.te!Hil.fe!«
    Er drehte sich um. Und hörte die Stimme wieder: »Hil.fe! Hil.fe!«
    Montalbano ging drei Schritte weiter, er war sicher, dass die Stimme vom Abgrund her kam. Vorsichtig näherte er sich der Kante des Weges und streckte den Kopf vor. Vielleicht zwanzig Meter weiter vorn, ein Stückchen unterhalb des Pfades, bildete hoch über dem Abgrund ein Felsvorsprung eine kleine Plattform. Auf dieser lag bäuchlings jemand, ob Mann oder Frau war nicht zu erkennen, weil der Anorak den Kopf verdeckte, und hielt eine Frau an den Handgelenken fest, damit sie nicht in den Abgrund stürzte. Glücklicherweise hatte die Frau es geschafft, den linken Fuß in eine Felsspalte zu schieben, denn sonst hätte die andere Person sie nicht lange halten können. Die Szene stellte sich Montalbano mit einem Mal so dramatisch dar, dass sie nicht real schien, und er wollte schon nachsehen, wo die Scheinwerfer und die Filmkamera platziert waren. Ohne dass er es merkte, hatten seine Beine ihn im Handumdrehen auf die Höhe der beiden Unglücklichen getragen, er sah fünf oder sechs in den Fels eingeschnittene Stufen, flog sie hinunter und stand schon neben dem Menschen, der ausgestreckt am Boden lag. Es war ein Mann, und er hatte ihn kommen hören. »Hilfe.«
    Er hatte keine Kraft mehr zu sprechen, außerdem war sein Mund, der in seinem Pullover vergraben war, gegen die Erde gepresst.
    »Können Sie mich hören?«, fragte der Commissario, legte sich neben ihn und zog dabei die Handschuhe aus. Er spähte nach der Frau. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht schneeweiß, und mit dem verschmierten Lippenstift sah sie aus wie ein Clown. »Ganz ruhig!«, sagte der Commissario zu ihr. Die Frau machte die Augen nicht auf, sie war reglos wie eine Statue. Montalbano legte sich zurecht und sagte zu dem Mann:
    »Hören Sie gut zu. Ich fasse jetzt mit beiden Händen das linke Handgelenk. Sie machen es genauso mit dem rechten Handgelenk. Zu zweit müssten wir sie hochziehen können. Hören Sie mich? Haben Sie verstanden?«
    »Ja.«
    Montalbano packte das linke Handgelenk, der

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