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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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junge Paare und explosionslüsterne Computertragödien hinter sich gelassen hat, steht sie draußen im Foyer.
    Von ihm ist nichts zu sehen, nur der Mann hinter der Kasse, der auf nichts zu achten scheint, liest in einer Zeitung. Sie geht zu den Toiletten, die sie etwas versteckt in einer Ecke findet.
    Sie tritt dicht an die Tür zur Männertoilette.
    »Rowan?«
    Nichts, allerdings spürt sie, dass jemand da sein muss.
    »Rowan?«
    Sie seufzt. Vielleicht hat sie ihn irgendwie gekränkt. Schon schleichen sich ihre üblichen Komplexe an. Vielleicht hatte sie zu viel über ihren Vater lamentiert. Dass ihnen Geld fehlte, war vielleicht das Zünglein an der Waage gewesen. Oder sie hat Mundgeruch. (Sie leckt sich die Hand, riecht daran, kann aber nichts entdecken außer dem süßlichen Babygeruch von Spucke auf Haut.)
    Vielleicht liegt es an dem Airborne-Toxie-Event-T-Shirt, das sie anhat. In solchen Dingen sind Jungs manchmal Geschmacksfaschos. Sie erinnert sich an den Abend in Sale, als sie den zugegebenermaßen heruntergekommenen Tristan Wood zum Weinen brachte – zum Weinen –, weil sie erklärte, dass sie Noah and the Whale besser fand als Fall Out Boy .
    Vielleicht hat sie mit dem Make-up übertrieben. Vielleicht war der apfelgrüne Lidschatten zu viel für einen Montag. Vielleicht lag es daran, dass sie im dickinsonschen Sinne arm und die Tochter eines psychotisch paranoiden Müllmann-Vaters ist, der seine Miete nicht bezahlen kann. Oder vielleicht, ganz vielleicht ist er ihr nah genug gekommen, um die Melancholie zu ahnen, die in ihrem Herzen sitzt und normalerweise tief unter einer oberflächlichen Maske aus fröhlichem Sarkasmus verborgen liegt.
    Oder vielleicht liegt es auch einfach daran, dass sie allmählich anfängt sich zu wünschen, dass er wiederkommt.
    Dritter Versuch. »Rowan?«
    Sie senkt den Blick auf den Boden, wo der Teppichbelag an der Tür endet.
    Es ist ein grauenhafter Teppich, alt und abgetreten mit einem Muster wie in umtriebigen Bingosälen, das man nicht allzu lange anstarren kann, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Aber das Muster ist es nicht, das ihr Sorgen bereitet. Es ist die dunkle Flüssigkeit, die unter der Tür durchkommt und sich allmählich ausbreitet. Eine Flüssigkeit, die, wie sie allmählich realisiert, sehr gut Blut sein könnte.
    Sie stößt die Tür vorsichtig auf, im Geiste auf das Schlimmste gefasst. Auf Rowan, der bewusstlos in einer Blutlache am Boden liegt.
    »Rowan? Bist du da drin?«
    Noch bevor die Tür ganz geöffnet ist, registriert sie die Blutlache, die aber anders aussieht, als sie sich vorgestellt hat. Da sind Glasscherben, wie von einer Weinflasche, aber für Wein ist das Zeug zu dickflüssig.
    Irgendjemand muss da sein.
    Ein Schatten.
    Etwas bewegt sich. Es ist zu schnell, um es zu erkennen, und dann, bevor sie weiß, was es ist, wird sie von einer Hand mit ungehemmter Kraft in die Toilette gezerrt.
    Der Schock presst ihr die Luft aus den Lungen, und erst eine oder zwei Sekunden später besitzt sie genügend Kraft und Geistesgegenwart, um zu schreien. Sie sieht das Gesicht des Mannes, kann aber eigentlich auf nichts anderes achten als auf seine Zähne, die überhaupt nicht wie Zähne aussehen.
    Und in der Sekunde, die er braucht, um sie an sich zu reißen, ploppt nur ein einziger, entsetzlicher Gedanke unter ihrer Panik hoch. Mein Dad hatte recht.
    Der Schrei ist da, viel zu spät.
    Mit seinem Arm hält er sie inzwischen fest umklammert, und sie weiß, dass diese Zähne, die keine Zähne sind, immer näher kommen. Sie wehrt sich und kämpft mit jedem bisschen sinnloser Kraft, das sie aufbringen kann, tritt ihm gegen die Schienbeine, zerkratzt ihm mit den Fingernägeln das Gesicht, das sie nicht sehen kann, ihr Körper windet sich wie ein verzweifelter Fisch am Haken.
    »Gepflückt.« Sein Atem in ihrem Ohr. »Genau wie deine Mutter.«
    Sie schreit noch einmal, mit verzweifeltem Blick in die leeren Kabinen hinter den offenen Türen. Sie spürt ihn auf ihrer Haut, wie er ihren Hals durchbohrt, und kämpft mit jedem einzelnen Atom ihres Wesens, um dem Schicksal ihrer Mutter zu entkommen.

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    MITLEID
    Will hatte weniger als eine Minute gebraucht, um von Bishopthorpe nach Thirsk zu fliegen, und das Kino in dem kleinen und leblosen Ort schnell gefunden.
    Er war auf der obersten Stufe gelandet und hineingegangen, um sich direkt in den Zuschauerraum zu begeben. Im Foyer hatte er dann aber Helens Blutgeruch wahrgenommen und war ihm zu den Toiletten

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