Die Radleys
praktiziert immer noch«, sagt er. »In Manchester. Letzte Weihnachten hat er mir eine E-Mail geschickt. Er praktiziert noch.«
Helen zuckt zusammen. »Eine E-Mail?«, fragt sie. »Davon hast mir gar nichts gesagt.«
»Warum wohl«, sagt er, während Helen das Tempo verringert. Claras Ortsangabe war ziemlich vage, gelinde ausgedrückt.
»Sie muss irgendwo hier an der Straße sein«, sagt Helen.
Peter deutet aus dem Fenster. »Sieh mal.«
Helen sieht ein Feuer auf einem der Äcker und Gestalten in der Ferne. Jetzt kann sie nicht mehr weit sein. Helen betet im Stillen, dass sich sonst niemand nach Clara auf die Suche gemacht hat oder nach dem Jungen.
»Wenn du nicht willst, dass ich ihn einschalte, regele ich es selbst«, sagt Peter. »Ich werde die Leiche von hier wegfliegen.«
Sie verwirft die Idee. »Mach dich nicht lächerlich. Und außerdem würdest du das gar nicht schaffen. Jetzt nicht mehr. Nicht nach siebzehn Jahren.«
»Wenn ich ein bisschen Blut trinken würde, könnte ich es. Ich bräuchte nicht viel.«
Helen sieht ihren Ehemann ungläubig an.
»Ich denke bloß an Clara«, sagt er, ohne die Umgebung aus den Augen zu lassen. »Du weißt doch, wie das ist. Was passiert. Gefängnis kommt nicht in Frage für sie. Sie würden …«
»Nein«, sagt Helen bestimmt. » Nein. Wir nehmen die Leiche mit. Wir beerdigen sie. Wir fahren ins Moor und begraben sie. Auf menschliche Weise.«
»Auf menschliche Weise!« Er lacht sie beinahe aus. »Herrgott!«
»Peter, wir müssen stark bleiben. Wenn du Blut trinkst, bricht alles auseinander.«
Er denkt nach. »Also gut. Du hast recht. Aber bevor wir diese Sache angehen, möchte ich etwas wissen.«
»Was denn?«, fragt sie. Selbst in einer Nacht wie dieser – besonders in einer Nacht wie dieser – fürchtet sich Helen vor der folgenden Bemerkung.
»Ich will wissen, ob du … mich liebst.«
Helen ist fassungslos ob der ungeheuren Belanglosigkeit dieser Frage angesichts ihrer derzeitigen Probleme.
»Peter, jetzt ist nicht der …«
»Helen, ich muss es wissen.«
Sie schafft es nicht, ihm zu antworten. Wie seltsam. In manchen Dingen fällt es so leicht zu lügen und in anderen nicht.
»Peter, heute Nacht spiele ich deine egoistischen Spielchen nicht mit.«
Ihr Ehemann nickt und holt tief Luft, er hat seine Antwort bekommen. Und dann ist da etwas, jemand, vor ihnen. Jemand kauert im Gebüsch.
»Da ist sie.«
Als Clara vortritt und sich zu erkennen gibt, wird alles real. Ihre Kleider, die sauber waren, als sie das Haus verließ, sind blutgetränkt. Es glänzt auf ihrem Pullover und der Kordjacke, Gesicht und Brille sind total verschmiert. Sie schützt ihre Augen vor den grellen Scheinwerfern.
»O mein Gott, Clara!«, sagt Helen.
»Helen, das Licht. Du blendest sie.«
Sie stellt es ab und hält am Straßenrand, ihre Tochter rührt sich nicht vom Fleck und lässt den Arm langsam wieder sinken. Ein Moment vergeht, dann steigt Helen aus dem Auto. Sie blickt auf das dunkle Feld, wo die Leiche liegen muss, die sie jedoch nicht sehen kann. Inzwischen ist es kalt. Der raue Wind weht ungehindert von der See über das Moor bis zu ihnen herüber. Claras Haare fliegen wild nach hinten und legen ihr Gesicht ganz frei, rund und vollkommen wie das eines Babys.
Ich habe sie getötet, denkt Helen, als ihr der leere Blick auffällt, der dem Gesicht ihrer Tochter mehr Entsetzen verleiht als das viele Blut. I ch habe unsere ganze Familie getötet.
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DIE DUNKLEN FELDER
Der Junge liegt vor Peter am Boden. Sein Zustand lässt keinen Zweifel daran, dass er tot ist. Die Arme hat er über den Kopf gehoben, kapitulierend. Sie hat sich an seiner Kehle gütlich getan und an der Brust und sogar an Teilen seines Bauchs. Sein offenes Fleisch glänzt beinahe schwarz, wobei verschiedene Schattierungen die unterschiedlichen Organe kennzeichnen. Seine unteren Gedärme quellen aus ihm heraus wie kriechende Aale.
Selbst in den alten Zeiten, nach wilden Gelagen, wurden Leichen nur selten in so einem Zustand zurückgelassen. Trotzdem kann er es nicht leugnen: Er ist nicht so erschüttert, wie er sein sollte. Er weiß, dass Clara nicht mehr in der Lage war aufzuhören, und da sie selbst ihre wahre Natur verschwiegen hatten, war es eigentlich ihre Schuld, dass dies passieren musste. Aber der Anblick des Blutes fasziniert ihn auch, ruft die alten hypnotischen Effekte hervor.
Blut, süßes Blut …
Er reißt sich zusammen und versucht, sich zu erinnern, was zu tun ist. Er muss die
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