Die Radleys
wie ein zerzauster Rocker aus irgendeiner überalterten Band, der immer noch glaubt, zum Musikerimage würde ein abgewetzter Regenmantel gehören. Außerdem war er unverkennbar älter als sie, aber als sie versuchte, sein Alter zu schätzen, erwies sich das als unmöglich.
Und dennoch, trotz des ersten Eindrucks hatte sie gespürt, wie in ihr etwas zum Leben erwachte. Ihr selbst auferlegtes Halbkoma, mit dem sie jede Schicht antrat, jeden Artikel über den Scanner zog und sämtliche Bons aus der Kasse riss, hatte sie plötzlich verlassen, und sie fühlte sich seltsam lebendig.
Lauter klischeehafte Gefühle, an die jeder romantisch veranlagte Mensch glaubt. Ein beschleunigter Herzschlag, ein schwindelerregender Blutrausch im Kopf, urplötzlich ein warmes Gefühl im Bauch.
Sie hatte sich kokett über irgendetwas mit ihm unterhalten, aber jetzt stand sie hier draußen mit ihm auf dem Parkplatz und konnte sich kaum noch erinnern. Über ihr Lippenpiercing? Genau. Ihr Lippenpiercing hatte ihm gefallen, aber die leuchtend roten Strähnchen in ihrem schwarz gefärbten Haar fand er keine so gute Idee, zusammen mit dem Lippenpiercing und ihrem blassen Makeup.
»Gothic würde bei Ihnen auch dann noch funktionieren, wenn Sie einen Gang runterschalten.«
Wenn ihr Freund Trevor so einen Mist von sich gab, scherte sie sich nicht darum, aber von einem vollkommen Fremden hatte sie es angenommen. Hatte sogar zugestimmt, sich mit ihm in zehn Minuten zu treffen, draußen auf einer Bank, trotz des Risikos, von all ihren klatschsüchtigen Kolleginnen gesehen zu werden, wenn sie für heute Feierabend machten.
Sie unterhielten sich. Sie blieben sitzen, während ein Auto nach dem anderen den Parkplatz verließ. Es kommt ihr wie ein paar Minuten vor, muss aber weit über eine Stunde gedauert haben. Und jetzt steht er ohne Vorwarnung auf und bedeutet ihr, das Gleiche zu tun, und sie wandern ziellos über den Asphalt, und dann ertappt sie sich dabei, dass sie sich an einen alten verbeulten VW-Camper lehnt. So ziemlich das einzige Auto, das noch auf dem Parkplatz steht. Eigentlich müsste sie bei Trevor sein. Er wird sich fragen, wo sie bleibt. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht spielt er einfach World of Warcraft und denkt überhaupt nicht an sie. Aber das ist eigentlich sowieso egal. Sie muss dieser Stimme weiter zuhören. Dieser vollen und selbstsicheren und teuflischen Stimme.
»Und gefalle ich Ihnen ein bisschen?«, fragt sie ihn.
»Sie machen mich hungrig, wenn es das ist, was Sie meinen.«
»Sie sollten mit mir essen gehen. Ich meine, wenn Sie hungrig sind.«
Er lächelt unverschämt. »Ich dachte gerade, Sie sollten mit zu mir kommen.«
Als seine dunklen Augen sie mustern, vergisst sie die Kälte, vergisst Trevor, vergisst alles, an das man sich erinnern sollte, wenn man mit einem Fremden auf einem Parkplatz spricht.
»Okay. Wo ist Ihre Wohnung?«
»Sie lehnen gerade dran«, erklärt er ihr.
Darüber lacht sie und lacht weiter. »O-kay«, sagt sie und versetzt dem Bus mit der Hand einen Klaps. So viel Abenteuer nach der Arbeit ist sie nicht gewöhnt.
»Okay«, wiederholt er.
Sie will ihn küssen, versucht aber, dagegen anzukämpfen. Will möchte die Augen schließen, um Trevors Gesicht zu sehen, aber es ist nicht da.
»Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass ich einen Freund habe«, sagt sie.
Der Mann scheint sich über diese Mitteilung prächtig zu amüsieren. »Ich hätte ihn fragen sollen, ob er mit uns zum Essen kommt.«
Er streckt seine Hand aus, und sie nimmt sie.
Sein Mobiltelefon klingelt. Sie erkennt den Klingelton. Sympathy for the Devil .
Er geht nicht dran. Stattdessen geht er zum Heck des Busses, öffnet die Tür. Drinnen ist ein Chaos aus Kleidungsstücken, zerfledderten Büchern und alten Kassetten. Sie entdeckt leere und volle Rotweinflaschen, die neben einer unbezogenen Matratze liegen.
Sie sieht ihn an und stellt fest, dass sie in ihrem Leben noch nie jemanden so attraktiv gefunden hat. Er bedeutet ihr einzusteigen. »Willkommen in meinem Schloss.«
»Wer sind Sie?«, fragt sie ihn.
»Mein Name ist Will Radley, falls es das ist, was Sie wissen wollten.«
Sie weiß nicht genau, was sie tut, nickt aber, dann rutscht sie auf Knien ins Innere des Busses.
Er fragt sich, ob sie der Mühe wert ist. Dummerweise kommt man an einen Punkt, denkt er, an dem sogar das Vergnügen, die schlichte Verfolgung und Erfüllung von Wünschen, zur Routine werden. Und das Dumme an Routine ist, dass sie die gleiche
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