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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Sehnsüchte stillen, sobald sie ihm in den Sinn kommen. Frei sein und auf sich selbst gestellt. Ist das nicht die einzig wahre Art zu leben?
    Er schließt die Augen und sieht Claras Gesicht vor sich, wie sie da an der Straße stand. Sie hatte so verstört und hilflos ausgesehen, auf der Suche nach jener Wahrheit, die er ihr versagt hatte. So hatte sie jedenfalls auf ihn gewirkt.
    Nein.
    Trotz des Blutes in seinem Körper ist er ein anderer Mann als der, den er irgendwo im schwarzen Loch seiner Studentenzeit hinter sich gelassen hatte. Er ist nicht sein Bruder. So könnte er niemals sein.
    Nicht jetzt.
    Langsam fliegt er eine Kurve in der kalten Luft undbewundert dabei das Meer: ein weites Band aus Stahl, das einen zerbrochenen Mond reflektiert.
    Nein, ich bin ein guter Mensch, sagt er zu sich selbst, während er sich und sein schweres Gemüt heimwärts schleppt.
    Im Auto wirft Helen immer wieder prüfende Blicke auf ihre Tochter, die reglos neben ihr auf dem Beifahrersitz sitzt.
    Sie hatte geahnt, dass etwas Derartiges passieren würde. Oft genug hat sie sich damit gequält, indem sie sich Szenarien wie dieses ausmalte. Aber jetzt, da es tatsächlich passiert ist, fühlt es sich völlig unwirklich an.
    »Eins sollst du wissen: Es ist nicht deine Schuld, dass es so gekommen ist«, sagt sie. Das Auto im Rückspiegel ist immer noch da, mit aufgeblendeten Scheinwerfern. »Weißt du, Clara, es ist wegen dieser Sache. Wegen diesem Leiden . Wir haben das alle, aber es hat … geschlafen … jahrelang. Dein Leben lang. Seit Rowan auf der Welt ist. Dein Vater und ich, Dad und ich, wir wollten nicht, dass ihr es wisst. Wir dachten, wenn ihr nichts davon wisst, dann … Erziehung besiegt die Natur, so dachten wir …«
    Sie fahren an dem Feld mit der Party vorbei, wo immer noch Leute um das fast heruntergebrannte Feuer tanzen. Helen weiß, dass sie weiterreden muss, erklären, ihrer Tochter Worte und immer mehr Worte anbieten muss. Brücken über das Schweigen. Schleier über die Wahrheit. Aber innerlich zerbricht etwas in ihr.
    »… aber diese Sache … sie ist stark … und sie ist stark wie ein Hai. Und sie ist immer da, egal, wie ruhig das Wasser ist. Es ist da. Gleich unter der Oberfläche. Stets bereit, dich …«
    Die Scheinwerfer im Rückspiegel bewegen sich nicht weiter und verlöschen. Das Wissen, dass ihr niemand mehr folgt, erleichtert Helen ein wenig.
    »Aber«, sagt sie und bekommt ihre Stimme allmählichwieder in den Griff, »alles ist gut. Alles ist gut, weil wir auch stark sind, Liebes, und wir werden darüber hinwegkommen und alles wird wieder gut werden, das verspreche ich dir. Es ist …«
    Helen sieht, wie das Blut im Gesicht ihrer Tochter langsam trocknet, um den Mund herum und am Kinn. Sogar auf der Nase und den Wangen sind Flecken.
    Wie Karnevalsschminke.
    Wie viel Blut hat sie getrunken?
    Helen ist sehr bestürzt, jetzt, als sie sich diese Frage stellt. Sie ist bestürzt, weil sie etwas aufgebaut hat, sorgfältig konstruiert wie eine Kathedrale, wohl wissend, dass es zusammenbrechen und alles und jeden, den sie liebt, unter sich begraben wird.
    »Was bin ich?«, fragt Clara.
    Das ist zu viel. Helen fällt keine Antwort auf diese Frage ein, und sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
    Irgendwann findet sie wieder Worte. »Du bist genau das, was du immer gewesen bist. Du bist du. Clara. Und …«
    Eine beiläufige Erinnerung drängt sich ihr auf. Wie sie ihre einjährige Tochter in den Schlaf wiegt, nach einem von vielen bösen Träumen. Wie sie zum hundertsten Mal singt: »Row, row, row your boat«, um sie zu beruhigen.
    Einen Moment lang wünscht sie sich diesen Augenblick zurück und ein Wiegenlied, das sie jetzt singen könnte.
    »Und es tut mir so leid, Liebling«, sagt sie, während dunkle Bäume am Fenster vorbeiziehen. »Aber es wird alles wieder gut. Bestimmt. Ganz sicher. Versprochen. Alles wird wieder gut.«

[Menü]
    MEIN NAME IST WILL RADLEY
    Auf dem Parkplatz eines Supermarktes in Manchester blickt eine Frau mit unermesslicher Sehnsucht in die Augen von Peters Bruder. Sie hat absolut keine Ahnung, was sie da tut. Es ist Gott-weiß-wie-spät, und sie steht auf dem Parkplatz, mit ihm, diesem unglaublichen und hypnotisierend spannenden Mann, ihrem letzten Kunden. Einem Mann, der mit nichts weiter als Zahnseide und Feuchttüchern im Korb an ihrer Kasse aufgetaucht ist.
    »Hallo, Julie«, hat er nach einem Blick auf ihr Namensschild gesagt.
    Oberflächlich betrachtet sah er schrecklich aus,

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