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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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Leiche zum Auto schleppen, wie Helen gesagt hatte. Ja, das muss er tun. Er geht in die Hocke, schiebt seine Arme unter Rücken und Beine des Jungen und versucht, ihn vom Boden aufzuheben. Es geht nicht. Momentan ist er zu schwach. Der Junge hat den Körper eines Mannes. Eines kräftigen Rugbyspielers.
    Für diesen Job braucht man zwei Leute, mindestens. Er blicktzu Helen hinüber. Sie umarmt Clara, deren Arme schlaff zu beiden Seiten herunterhängen.
    Nein, das kann er selbst erledigen. Er wird ihn einfach ziehen und dann die Spuren beseitigen. Regen ist vorhergesagt. Wenn es genügend regnet, werden die Spuren verschwinden. Aber was ist mit der DNA? In den Achtzigern hatten sie sich deshalb keine Sorgen machen müssen. Will würde wissen, wie man damit umging. Warum stellte sich Helen seinetwegen bloß immer so an? Was hatte sie für ein Problem?
    Er packt die Knöchel und versucht, die Leiche über den Boden zu zerren. Sie ist zu schwer, es dauert zu lange.
    Um Atem ringend hält er inne und betrachtet das Blut an seinen Händen.
    Er hatte Helen geschworen, niemals in Erwägung zu ziehen, was ihm jetzt in den Sinn kommt. Das Blut glänzt, jetzt nicht mehr schwarz, sondern purpur. Scheinwerfer flackern in der Ferne zwischen den Hecken. Der Wagen fährt langsam, als ob der Fahrer etwas suchen würde.
    »Peter!«, ruft Helen. »Da kommt jemand!«
    Er hört, wie sie Clara ins Auto befördert, dann ruft sie ihm zu. »Peter, lass die Leiche!«
    Der Leichnam des Jungen liegt jetzt dichter an der Straße, und wenn das Auto vorbeifährt, könnte er gesehen werden, im Licht der Scheinwerfer, die nach Nebelleuchten aussehen. Er zerrt verzweifelt an der Leiche, mobilisiert seine ganze Kraft und ignoriert den stechenden Schmerz in seinem Rücken. Es hat keinen Sinn. Ihm bleiben Sekunden, keine Minuten.
    »Nein«, sagt er.
    Wieder senkt er den Blick auf das Blut an seinen Händen, bevor Helen bei ihm angekommen ist.
    »Bring Clara nach Hause. Ich kümmere mich um das hier. Ich schaffe das schon.«
    »Nein, Peter …«
    »Fahr nach Hause. Fahr los. Verdammt noch mal, Helen, fahr!«
    Ohne auch nur zu nicken, steigt sie ins Auto und fährt los.
    Peter beobachtet die sich langsam nähernden Nebelscheinwerfer, während er seine Hände ableckt und kostet, was er siebzehn Jahre nicht kosten durfte. Und es passiert. Kraft durchströmt seinen Körper und beseitigt jedes winzige Stechen und den Schmerz. Er spürt die schnelle Neuordnung seiner Zähne und Knochen, während er sich in die reinste Form seines wahren Ichs verwandelt. Eine unglaubliche Erleichterung, als würde er unbequeme Kleidung ablegen, die ihn über Jahrzehnte eingeengt hat.
    Der Wagen kommt immer näher.
    Mit der Hand am tropfenden Hals des Jungen leckt er das nahrhafte, köstliche Blut. Dann hebt er die Leiche hoch, spürt das Gewicht kaum noch und prescht mit ihm über die dunklen Felder.
    Schneller und schneller und schneller.
    Er versucht, nicht zu viel Freude zu empfinden, und konzentriert sich angestrengt auf seine Aufgabe. Er fliegt weiter, seine Gedanken lenken den Flug.
    Das ist es, was der Genuss von Blut mit ihm macht. Er schließt die Lücke zwischen Denken und Handeln. Denken ist Handeln. All das ungelebte Leben verschwindet, wenn die Luft am Körper entlangströmt, wenn man auf die trostlosen Dörfer und Marktflecken – in hübsche Lichtbündel verwandelt – hinunterblickt und über Land auf die Nordsee hinausfliegt.
    Und jetzt ist das Gefühl da, er lässt zu, dass es ihn überwältigt.
    Dieser beflügelnde Rausch, sich wahrhaft lebendig undgegenwärtig zu fühlen, ohne Furcht vor Konsequenzen, vor Vergangenheit und Zukunft. Er spürt nichts außer dem pfeifenden Luftzug und dem Aroma des Blutes auf seiner Zunge.
    Kilometerweit draußen über dem Meer, als keine dunklen Schatten die Anwesenheit von Booten verraten, lässt er die Leiche los und kreist in der Luft, während der Körper in Richtung Wasser fällt. Dann leckt er sich noch einmal die Hände ab. Er saugt richtig an seinen Fingern und schließt genussvoll die Augen.
    Das ist Freude!
    Das ist Leben!
    Einen Moment lang, hoch oben in der Luft, überfällt ihn der Gedanke, so weiterzumachen. Er könnte bis nach Norwegen fliegen. Oben in Bergen gab es eine große Vampirgemeinde, die vielleicht noch existiert. Er könnte sich auch ein Land suchen, in dem die Kontrollen weniger streng sind. Holland vielleicht. Irgendein Land mit mehr Unabhängigkeit. Er könnte abhauen und allein leben und all seine

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