Die Radleys
Langeweile hervorruft, unter der auch alle anderen – alle Unblutigen und Abstinenzler – leiden.
Sie schaut auf die Flasche. Dieses Mädchen, diese Julie, die sich so leicht hierher locken ließ, die höchstwahrscheinlich nicht halb so gut schmeckt wie die Frau, die er gerade herunterkippt – Isobel Child, die von allen Vampiren am zweitbesten schmeckt. Aber Isobel kann er heute Abend überhaupt nicht ab, ebenso wenig wie alle anderen polizeihörigen Blutsauger, die ihm vorschreiben, wie er leben soll.
»Und was machen Sie so?«, fragt ihn Julie.
»Ich bin Professor«, sagt er. »Jedenfalls war ich das mal. Niemand will mehr, dass ich unterrichte.«
Sie zündet sich eine Zigarette an und saugt heftig am Filter, immer noch fasziniert von der Flasche. »Was trinken Sie da?«
»Das ist Vampirblut.«
Julie findet das saukomisch. Ihr Kopf kippt nach hinten, als sie in Gelächter ausbricht, und gibt Will den Blick auf ihren kompletten Hals frei. Blasse Haut bis hinauf zum noch blasseren Make-up. Seine übliche Vorliebe. Ein kleines, flaches Muttermal sitzt nahe bei ihrer Kehle. Unter dem Kinn die türkisfarbene Spur einer Ader. Er atmet durch die Nase ein und kann ihren Geruch gerade noch wahrnehmen, dasnikotingetränkte, schlecht ernährte Blut mit Rhesusfaktor negativ.
»Vampirblut!« Ihr Kopf kippt wieder nach vorn. »Ist das komisch!«
»Ich könnte auch Sirup oder Nektar oder Lebenssaft sagen, wenn Ihnen das lieber ist. Aber soll ich Ihnen was sagen? Für Euphemismen habe ich grundsätzlich nicht viel übrig.«
»Aha«, sagt sie, immer noch lachend. »Warum trinken Sie Vampirblut?«
»Es weckt meine Energien.«
Das gefällt ihr. Rollenspiel.
»Also gut, legen Sie los. Verwenden Sie Ihre Energien auf mich, Mr. Dracula.«
Er hört auf zu trinken, verkorkt die Flasche wieder, stellt sie ab. »Eigentlich ziehe ich Graf Orlok vor, aber Dracula tut’s auch.«
Sie sieht ihn schüchtern an. »Und werden Sie mich beißen?«
Er zögert. »Das sollten Sie sich vielleicht besser nicht wünschen, Julie.«
Sie rückt näher, kniet über ihm, ihre Lippen legen eine Spur aus Küssen von seiner Stirn bis zu seinen Lippen.
Er weicht aus, schmiegt seinen Kopf an ihren Hals, inhaliert noch einmal, was er gleich kosten wird, während er sich bemüht, ihr billiges Parfüm auszublenden.
»Nur zu«, sagt sie, ohne zu ahnen, dass dies ihre letzte Bitte sein wird. »Beißen Sie mich.«
Als Will mit Julie fertig ist, betrachtet er sie, wie sie in ihrem blutgetränkten Kittel daliegt, und fühlt sich leer. Ein Künstler, der eins seiner weniger gelungenen Werke ansieht.
Er greift nach dem Telefon und hört die erste und einzige Nachricht auf seiner Sprachmailbox.
Es ist die Stimme seines Bruders.
Es ist Peter, der ihn um Hilfe bittet.
Peter!
Der kleine Pete!
Sie brauchen seine Hilfe, weil Clara offensichtlich ein böses Mädchen gewesen ist.
Clara ist die Tochter, erinnert er sich. Rowans Schwester.
Aber dann bricht die Nachricht ab. Zu hören ist nur noch ein Summen. Und dann ist es so, wie es immer ist, er sitzt in seinem Bus mit irgendeinem toten Mädchen und Flaschen voll Blut und einer kleinen Schuhschachtel voller Erinnerungen.
Die Nummer holt er sich aus der Anruferliste und ruft ohne Erfolg zurück. Peter hat das Telefon ausgeschaltet.
Seltsam und immer seltsamer.
Er kriecht zu Julie hinüber und denkt gar nicht daran, seinen Finger in ihren Hals zu tunken, um noch einmal zu kosten. Die Schuhschachtel steckt zwischen dem Fahrersitz und seiner ganz besonderen Flasche Blut, die er in einem alten Schlafsack aufbewahrt.
»Pete, Pete, Pete«, sagt er, streift das Gummiband von der Schachtel, nicht um die vertrauten Briefe und Fotos herauszuholen, sondern eine Nummer abzulesen, die auf der Innenseite des Deckels geschrieben steht. Diese Nummer hatte er von einem Rezept abgeschrieben, wobei es sich wiederum um eine Kopie von Peters E-Mail handelt, die Will in einem Internetcafé in Lviv gelesen hatte, wo er letztes Jahr mit einigen Mitgliedern der Ukrainischen Abteilung der Sheridan Society Weihnachten verbrachte, auf dem Heimweg von einem Gelage in Sibirien.
Es ist die einzige Festnetznummer, die er sich jemals notiert hat.
Er wählt. Und wartet.
[Menü]
DIE UNENDLICHE EINSAMKEIT VON BÄUMEN
Rowan geht nach unten, um festzustellen, dass nicht nur alle das Haus verlassen haben, sondern dass seine Eltern nicht einmal den Tisch abgeräumt haben. Sogar die Beerengrütze steht noch da.
Beim Anblick des
Weitere Kostenlose Bücher