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Die Radleys

Titel: Die Radleys Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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eine Seitengasse, an großen Müllcontainern vorbei, sieht aber eine hohe orangefarbene Betonwand vor sich. Eine Sackgasse.
    Der Sicherheitsbeamte hat sie in die Enge getrieben. Er spricht in sein Funkgerät, das an seiner Hemdtasche festgeschnallt ist, während er näher kommt.
    »Alles in Ordnung, Dave. Ich hab sie. Ist bloß ein Mädchen.«
    Clara bleibt mit dem Rücken zur Mauer stehen. »Tut mir leid«, sagt sie. »Ich wollte nichts stehlen. Ich hatte eine kleine Panikattacke, das ist alles. Ich hab genug Geld. Ich kann …«
    Der Sicherheitsbeamte grinst, als ob sie einen Witz erzählt hätte. »Klar, sicher, Kleine. Das kannst du alles drüben auf der Polizeiwache erklären. Bin allerdings nicht sicher, ob sie dir glauben werden.«
    Er legt ihr eine schwere Hand auf den Arm. Während die Hand zudrückt, entdeckt sie das Tattoo einer Meerjungfrau auf seinem Unterarm, deren blaues Tintengesicht irgendwie hilflos-verständnisvoll zu ihr aufsieht. Er zieht sie in Richtung Straße. Als sie sich dem Ausgang der Gasse nähern,hört Clara die Schritte von Passanten, die vorbeieilen, das Tappen wird schneller, bis es ihr wie ein kollektiver Freudentanz vorkommt. Die Hand drückt fester zu, und eine verzweifelte Wut kocht in ihr hoch. Sie versucht, sich ihm zu entziehen.
    »Denk gar nicht erst dran«, sagt der Sicherheitsbeamte.
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, setzt sie den Trick mit den Zähnen ein. »Bleib weg von mir«, faucht sie.
    Plötzlich lässt er sie los, als ob er sich an ihr verbrannt hätte. Er spürt, dass sie sein Blut riechen kann. Angst überwältigt ihn, sein Mund klappt auf und er zieht sich rückwärts zurück, die flachen Hände abwärts von sich gestreckt in einer Geste, mit der man Deutsche Schäferhunde zu besänftigen versucht.
    Clara sieht die Angst, die sie diesem erwachsenen Mann eingeflößt hat, und erschaudert bei der schrecklichen Erkenntnis ihrer Macht.

[Menü]
    RETTET DIE KINDER
    Peter erlebt den Vormittag in der Praxis wie hinter einem dichten Schleier. Die Patienten kommen und gehen, und er spult seine Routinen ab. Während der Tag voranschreitet, denkt er immer häufiger daran, wie er sich gefühlt hat, als er in der vergangenen Nacht durch die Luft gerast ist, an den schwerelosen Geschwindigkeitsrausch, und findet es zunehmend schwierig, sich darauf zu konzentrieren, was um ihn herum passiert.
    So auch, als sich die Tür öffnet und Mr. Bamber erscheint, nur einen Tag nach seiner Rektaluntersuchung.
    »Hallo«, sagt Peter und hört seine Stimme wie aus weiter Ferne hoch oben über der Nordsee. »Wie geht es Ihnen?«
    »Nicht so gut, ehrlich gesagt«, meint der alte Mann und setzt sich auf den orangefarbenen Plastikstuhl. »Wegen dieser Antibiotika. Sie haben meinen Eingeweiden den Krieg erklärt.«
    Er klopft sich auf den Bauch, um anzuzeigen, welchen Teil seiner Eingeweide er meint. Peter sieht in seinen Notizen nach.
    »Verstehe. Also, normalerweise hat Amoxicilin kaum Nebenwirkungen.«
    Mr. Bamber gibt einen pfeifenden Seufzer von sich. »Meine Darmkontrolle funktioniert nicht mehr richtig. Das ist nicht so schön. Wenn ich muss, dann muss ich. Fühlt sich an wie in Die Zerstörung der Talsperren .«
    Der alte Mann bläst die Backen auf und imitiert das Geräusch eines brechenden Staudamms. Für Peter ist diese Information zu viel.
    Er schließt die Augen und reibt sich die Schläfen, um den Kopfschmerz zu bekämpfen, der stundenlang weg war, sich jetzt aber wieder anschleicht.
    »Also gut«, ringt er sich schließlich ab. »Ich werde Ihnen ein neues Rezept geben mit einer geringeren Dosierung, dann sehen wir weiter.«
    Peter kritzelt ein unleserliches Rezept, das er ihm überreicht, und ohne dass er es mitbekommt, ist der Nächste im Zimmer. Und danach wieder jemand.
    Die schüchterne Frau mit der Pilzerkrankung.
    Der Mann mit dem unkontrollierbaren Husten.
    Eine Frau mit Grippe.
    Der alte Kerl mit dem Kricketjackett, der keinen mehr hochkriegt.
    Ein Hypochonder mit zahllosen Leberflecken, der so lange gegoogelt hat, bis er überzeugt ist, dass er Hautkrebs hat.
    Margaret vom Postamt, die ihm ihren Mundgeruch ins Gesicht bläst, damit er die Ursache feststellt. (»Nein, Margaret, ehrlich, man riecht so gut wie nichts.«)
    Nachmittags um halb drei will Peter schon gehen. Schließlich ist Samstag.
    Samstag!
    Sams-tag.
    In den beiden Silben steckte früher einmal köstliche Erregung. Während er den Blutstropfen an seiner Wand anstarrt, erinnert er sich, welche Bedeutung die

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