Die Radleys
gesagt, Helen, nur bis Montag.«
Rowan sitzt auf dem Friedhof an eine Eibe gelehnt, außer Sichtweite von der Straße aus. Er hat eine ganze Packung Ibuprofen geschluckt, fühlt sich aber noch ganz genauso wie vor einer halben Stunde ohne den Kopfschmerz.
Das ist die Hölle, denkt er sich. Gefangen in dem langen und qualvollen Schuldspruch, dessen Endpunkt er erst nach Ablauf von etwa zweihundert Jahren erreichen wird.
Er bereut, dass er seinen Vater nicht gefragt hat, wie man einen Vampir umbringt. Er würde wirklich gern wissen, ob Selbstmord als Lösung in Frage kommt. Irgendwann steht er schließlich auf und macht sich auf den Heimweg. Auf halber Strecke sieht er Eve, die gerade aus einem Bus steigt. Sie geht auf ihn zu, und ihm wird klar, dass es zu spät ist, um sich zu verstecken.
»Weißt du, wo deine Schwester sein könnte?«, fragt sie ihn.
Sie sieht ihm so direkt ins Gesicht, Eve, wie sie leibt und lebt mit ihren leuchtenden Augen, dass er kaum sprechen kann.
»Nein«, bringt er schließlich heraus.
»Sie ist einfach aus dem Top Shop verschwunden.«
»Oh. Nein. Ich … ich habe sie … nicht gesehen.«
Rowan macht sich Sorgen um seine Schwester. Vielleicht ist sie von der Polizei geschnappt worden. Einen Moment lang besiegt die Sorge um seine Schwester seine generelleAngst, mit Eve zu sprechen. Und wegen dieser Besorgnis bekommt der chemische Geschmack in seinem Mund eine Note von Schuld, weil er noch vor einer halben Stunde vorhatte, seine Schwester zusammen mit der ganzen Welt im Stich zu lassen.
»Also, es war seltsam«, sagt Eve. »Erst war sie noch da und dann ganz plötzlich …«
»Eve!« Jemand rennt rufend auf sie zu. »Eve, ich hab überall nach dir gesucht.«
Eve verdreht die Augen und stöhnt, wobei sie Rowan einen Blick zuwirft, mit dem man Freunde ansieht.
Ein Grund, weiterzuleben.
»Tut mir leid, muss gehen. Mein Dad. Bis später.«
Beinahe hätte er den Mut aufgebracht, zurückzulächeln, und als sie sich bereits abgewendet hat, schafft er es sogar.
»Okay«, sagt er. »Bis bald.«
Stunden später ist er in seinem Zimmer und hört sein Lieblingsalbum von den Smiths – Meat is Murder. Er schlägt im Stichwortregister des Handbuchs für Abstinenzler nach, und auf Seite 140 springt ihm die folgende Passage entgegen:
Anmerkung zum Thema Selbstmord
Selbstmordgedanken infolge von Depressionen sind ein gängiger Fluch unter Abstinenzlern.
Ohne eine regelmäßige Ernährung mit Menschen- oder Vampirblut kann das Nervensystem ernsthaften Schaden erleiden. Sehroft ist der Serotoninspiegel sehr niedrig, während die Cortisolproduktion in Krisenzeiten alarmierend ansteigen kann. Und man ist versucht, etwas Übereiltes zu tun, ohne darüber nachzudenken.
Hinzu kommt ein natürlicher Selbsthass, der daher rührt, dass wir wissen, was wir sind, und eine tragische Ironie liegt bei uns Abstinenzlern darin, dass wir unsere Instinkte zum Teil deshalb verabscheuen, weil wir ihnen zuwiderhandeln. Im Unterschied zu jenen Blutsüchtigen, die sich von ihrer Sucht blenden lassen, besitzen wir die Klarheit, das Monster in uns wirklich zu erkennen, und diese schmerzhafte Erkenntnis kann für den einen oder anderen zu belastend werden.
Ziel dieses Handbuches ist es nicht, jene zu verurteilen, die ihrem Leben ein Ende machen wollen. In der Tat kann das in vielen Fällen – wenn beispielsweise ein Abstinenzler daran denken könnte, den alten mörderischen Weg wieder einzuschlagen – vielleicht sogar ratsam sein.
Gleichwohl ist es wichtig, sich die folgenden Fakten einzuprägen:
1. Abstinenzler leben vielleicht wie Menschen, können aber nicht so einfach sterben wie sie.
2. Theoretisch ist es möglich, Selbstmord zu begehen, indem man pharmazeutische Präparate zu sich nimmt, aber die erforderliche Menge ist deutlich höher als bei gewöhnlichen Sterblichen. Ein Beispiel: Ein durchschnittlicher Vampir müsste ungefähr dreihundert starke Paracetamoltabletten à fünfhundert Milligramm zu sich nehmen.
3. Kohlenmonoxidvergiftung, Sturz von Gebäuden und Pulsadern aufschneiden sind ebenfalls äußerst unpraktikabel. Vor allem Letzteres, da der Anblick und Geruch unseres eigenen Blutes augenblicklich das Verlangen nach anderen, lebenden Quellen wecken kann.
Rowan klappt das Buch zu, seltsamerweise erleichtert. Schließlich könnte er Eve nie mehr wiedersehen, wenn er sich umbringen würde, und der Gedanke entsetzt ihn mehr als die Vorstellung, am Leben zu bleiben.
Er schließt die Augen, legt sich
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