Die Radleys
bis zum letzten Blatt aufgebraucht hat.
Obwohl Rowan überhaupt nicht geschlafen hat, ist er beim Frühstück wacher als sonst. Er sitzt da, isst seinen Schinken und hört Radio.
Während sich seine Eltern im Flur streiten, flüstert er Clara zu: »Ich hab’s probiert.«
»Was?«
»Das Blut.«
Claras Augen werden groß. »Und?«
»Hat meine Schreibblockade kuriert.«
»Fühlst du dich anders?«
»Ich habe hundert Liegestütze geschafft. Normalerweise komme ich auf zehn. Und mein Ausschlag ist weg. Und meine Kopfschmerzen auch. Meine Sinne sind so scharf wie bei einem Superhelden oder so.«
»Ich weiß, ist doch irre, findest du nicht?«
Helen betritt den Raum. »Was ist irre?«
»Nichts.«
»Nichts.«
Rowan nimmt die Flasche mit in die Schule und setzt sichim Bus neben Clara. Sie sehen, wie sie von Eve in einem Funktaxi überholt werden. Vom Rücksitz aus zuckt sie mit den Schultern und formt mit dem Mund die Worte »mein Dad«.
»Glaubst du, dass er ihr etwas gesagt hat?«, fragt Rowan seine Schwester.
»Ihr was gesagt hat?«
»Du weißt schon, dass wir …«
Clara fürchtet, die Leute könnten sie hören. Sie dreht sich um. »Was hat Toby denn vor?«
Rowan entdeckt Toby in der letzten Reihe, wo er einer Gruppe Elftklässler Vorträge hält. Gelegentlich starrt einer von ihnen zu den Radley-Geschwistern hinüber.
»Ach, ist doch egal.«
Clara sieht ihren Bruder stirnrunzelnd an. »Da spricht das Blut aus dir.«
»Wenn du willst, kannst du einen Nachschlag haben. Bei dir scheint die Wirkung nachzulassen.«
Er deutet auf seine Schultasche.
Ihr Blick folgt seiner Geste, halb versucht und halb ängstlich. Der Bus wird langsamer. Das hübsche, cremefarbene Fox & Crown Pub gleitet langsam am Fenster vorbei. Sie sind an der Haltestelle in Farley angekommen. Harpers Haltestelle. Die wenigen Schüler, die einsteigen, als der Fahrer die Tür öffnet, wirken aufgeregt, weil eine Person vermisst wird.
Rowan kennt das von früher, als Leo Fawcett vor zwei Jahren auf dem Sportplatz an einem Asthmaanfall starb. Die Menschen befällt eine Begeisterung, wenn etwas Schreckliches passiert. Sie würden das zwar niemals zugeben, dabei sieht man es in ihren Augen blitzen, während sie erzählen, wie schlecht es ihnen geht.
»Nein«, sagt Clara. »Natürlich will ich nichts. Mein Gott,nicht zu fassen, dass du es mitgenommen hast. Wir müssen vorsichtig sein.«
»Boah, was ist denn mit den Radleys passiert?«, sagt Laura Cooper im Vorbeigehen. »Die sehen so anders aus.«
Schulterzuckend sieht Rowan erst seine Schwester an und dann zum Fenster hinaus in den zarten Morgennebel, der wie regloser Regen über dem Feld schwebt und wie ein Vorhang vor der Landschaft zu hängen scheint. Er ist glücklich, trotz allem. Trotz der Zweifel seiner Schwester und trotz Toby und der übrigen Mitschüler. Er ist glücklich, weil er weiß, dass er in weniger als einer Stunde Eve sehen wird.
Als er sie dann tatsächlich sieht, in der Reihe vor ihm bei der Morgenandacht, ist das fast zu viel für ihn. Wegen seiner scharfen Sinne ist der Duft ihres Blutes mit seinen komplexen und zahllosen Texturen geradezu überwältigend.
Vielleicht liegt es daran, dass sich Eve die Haare hochgesteckt hat und ihr Hals entblößt ist, aber Rowan fällt auf, dass er sich nicht ganz so unter Kontrolle hat, wie er geglaubt hätte.
»Und so hoffen wir aus unserem tiefsten Herzen«, dröhnt Mrs. Stokes’ Stimme vom Rednerpult am Ende des Saales. »Und ich weiß, dass ich mit jedem Einzelnen von euch die Hoffnung teile, dass Stuart Harper heil und gesund nach Hause kommt …«
Er kann Eves Blut riechen. Sonst eigentlich nichts. Nur ihr Blut und das Versprechen auf einen Geschmack, von dem er weiß, dass er alles andere auf der Welt übertreffen wird.
»… Aber bis dahin müssen wir alle für seine Sicherheit beten und auch sehr vorsichtig sein, wenn wir nach der Schule da draußen sind …«
Er merkt kaum, wie er sich näher und näher zu ihr nachvorne beugt, in einer Art Wachtraum versunken. Aber dann hört er ein lautes Husten von der seitlichen Empore des Saales. Er sieht seine Schwester, die ihn anfunkelt und aus seiner Trance reißt.
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DIE DREI PHIOLEN
Zu den Dingen, die Peter am Leben in der Stadt am meisten geschätzt hat, gehörte das fast vollständige Ausbleiben von Nachbarschaftstratsch.
In London konnte man den ganzen Tag schlafen und die ganze Nacht frisches Hämoglobin trinken, ohne dass ein einziges Mal ein Vorhang
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