Die Radleys
der Tür. Er hatte nur noch eine einzige Chance. Er schloss die Augen und nahm ein ganzes Universum mit dem Duft ihres Blutes in sich auf. Er dachte an den klugen, alten, französischen Blutsüchtigen, Jean Genet, und zitierte: »Wer nie erfahren hat, welche Ekstase Betrug mit sich bringt, weiß überhaupt nicht, was Ekstase ist.« Und dann erzählte er ihr tausend Sachen, um ihr wahres Ich zu vernichten.
Er streckte seine Hand aus. Und in einem schicksalhaften Moment der Schwäche ergriff sie sie. »Komm mit«, sagte er mit dem Gefühl jener tiefen Freude, die ihn stets überkam, wenn es ihm gelungen war, das Glück eines anderen zu zerstören. »Gehen wir hinaus.«
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EIN ANGEBOT
Fast zwei Jahrzehnte nach diesem Gespräch mit Will führt Helen eine Polizistin in ihr Wohnzimmer. Im Kopf und am Hals verspürt sie ein nervöses Kribbeln.
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Alison?«, sagt sie. »Alison war doch richtig, nicht wahr?«
»Ja, vollkommen richtig. Aber nein, ich möchte keinen Kaffee.«
Alisons Stimme klingt kühl und offiziell, und Helen fragt sich, ob sie wirklich nur gekommen ist, um ein paar Routinefragen zu stellen.
»Clara ist noch in der Schule«, sagt sie.
»Ich bin nicht gekommen, um mit Ihrer Tochter zu sprechen.«
»Ich dachte, Sie hätten Clara erwähnt.«
Alison nickt. »Ich wollte über sie sprechen, nicht mit ihr, Mrs. Radley.«
Vor wenigen Stunden war Helen nach Hause gekommen, um sich die Nachrichten anzusehen, es war aber nichts über die Entdeckung der Leiche des Jungen gemeldet worden. Sie hatte erleichtert aufgeatmet. Ihre Freundinnen im Lesekreis hatten sich vielleicht geirrt. Mit Alisons nächster Äußerung verschwindet ihre Erleichterung jedoch wieder.
»Wir haben die Leiche von Stuart Harper gefunden«, sagt sie. »Wir wissen, dass Ihre Tochter ihn umgebracht hat.«
Helens Mund öffnet und schließt sich, aber nichts kommtheraus. Ihr Hals ist trocken, und in ihren schweißnassen Handflächen sticht es wie tausend Nadeln.
»Was? Clara? Jemanden umgebracht? Wie können Sie … das ist doch …«
»Unglaublich?«
»Ja, genau.«
»Mrs. Radley, wir wissen, was sie getan hat und wie sie es getan hat. Sämtliche Beweise sind an der Leiche des Jungen zu finden.«
Helen versucht, sich mit der Idee zu trösten, dass Alison blufft. Wie können denn alle Beweise vorliegen? Schließlich haben sie keine DNA-Probe von Clara genommen. Wir wissen, was sie getan hat und wie sie es getan hat. Nein, das kann sie nicht ernst meinen. Sie sieht nicht aus wie eine Frau, die einfach so an Vampire glaubt oder an fünfzehnjährige Schulmädchen, die mit ihren Zähnen einen Jungen umbringen.
»Entschuldigen Sie«, sagt Helen, »aber ich fürchte, Sie müssen sich irren.«
Alison zieht die Augenbrauen hoch, als hätte sie damit gerechnet, dass Helen so etwas sagt. »Nein, Mrs. Radley. Seien Sie versichert, dass sämtliche Wege zu Ihrer Tochter führen. Sie steckt in sehr ernsthaften Schwierigkeiten.«
Unfähig, klar zu denken, während ihr so viele Paniksignale im Kopf herumschwirren, steht Helen auf, um das Gleiche zu tun wie gestern. »Entschuldigen Sie mich«, sagt sie. »Ich bin gleich zurück. Ich muss nur kurz etwas erledigen.«
Bevor sie das Zimmer verlassen kann, hört sie Alisons Frage.
»Wo gehen Sie hin?«
Helen bleibt stehen, den Blick auf ihren eigenen blassen Schatten auf dem Teppich gesenkt. »Die Waschmaschine. Ich höre sie piepen.«
»Nein, sie piept nicht, Mrs. Radley. Bitte, es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Sie jetzt zurückkommen und sich setzen. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.«
Helen geht weiter, ohne die Beamtin zu beachten. Alles, was sie jetzt braucht, ist Will. Er kann mit Alison Blutdenken und machen, dass alles weggeht.
»Mrs. Radley? Bitte kommen Sie zurück.«
Aber sie hat das Haus bereits verlassen, geht auf den Campingbus zu. Zum zweiten Mal ist sie Will dankbar, dass er gekommen ist, glaubt, dass die Bedrohung, die er für sie darstellt, jene aufwiegt, die er abwehren kann. Die Bedrohung für ihre Tochter, für ihre Familie, für alles.
Sie klopft an die Bustür. »Will?«
Keine Antwort.
Sie hört Schritte im Kies knirschen. Alison Glenny ist ihr gefolgt, lässig und ohne die Augen zusammenzukneifen, trotz der Helligkeit. Sie könnte vermutlich direkt in die Sonne schauen, ohne zu blinzeln.
»Will? Bitte. Ich brauche dich. Bitte.«
Sie klopft wieder. Ein eindringliches Klopf-klopf-klopf, auf das wieder nur Schweigen
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