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Die Rastlosen (German Edition)

Die Rastlosen (German Edition)

Titel: Die Rastlosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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das obere Stockwerk mit einem unheimlichen Grollen eingestürzt. Er war noch etwa zehn Minuten geblieben, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl es ihm nicht besonders gutging – er schwankte leicht, es war kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag, seine Wangen brannten noch, die Augen waren geschwollen –, dann erst trat er den Rückzug an. Ohnmächtig geworden war er erst ein Stück weiter, am Wegrand, wo er zunächst auf die Knie fiel und dann der Länge nach auf den Asphalt der Straße schlug, als Marianne mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam, ein paar Sekunden zu spät, um ihn aufzufangen, aber äußerst bekümmert und voller verzweifelter, jugendlicher Klagelaute.
    Er berührte Myriams Fuß, um ihr ein Eichhörnchen zu zeigen, das ins Zimmer gekommen war, angelockt vom Duft der erkalteten, mit Ahornsirup getränkten Toasts. Wie hätte er ihr für irgendetwas böse sein können? Er betrachtete sie, wie sie in den Kissen lag, ganz erledigt, ganz kalt. Fragte sich, ob ihre Stellung als Polizeibeamtin ihren Reiz nicht sogar noch erhöhte.
    Er hatte sowieso nicht die Absicht, dieses Thema mit ihr anzusprechen. Ihr zu sagen, dass er Bescheid wusste, dass sie enttarnt war. Er versprach sich davon keinen Nutzen. Ein angefahrener Hirsch war ein schlechtes Zeichen. Sie hatten sich in dem glasigen Auge gesehen, und auch das war ungünstig, es verhieß nichts Gutes, aber sie hatten diese dunklen Wolken weggeschoben. Sie hatten sich einen Ruck gegeben. Es war ihr erstes gemeinsames Wochenende, ihr erstes langes Tête-à-tête.
    Er versuchte sich Myriam in einer marineblauen Uniform vorzustellen. Am Abend vor ihrer Abreise, als sie schon schlief, hatte er schließlich ihre Waffe gefunden – sie war in einem Stiefel unter einer dicken Wollsocke versteckt – und sie im Halbdunkel begutachten können. Einen Moment lang staunte er, wie unglaublich blind er die ganze Zeit gewesen war, trotz seiner tollen Regeln, trotz seiner tollen Vorsichtsmaßnahmen. Oftmals konnte man nur erschauern, wenn man im Nachhinein erfuhr, an wie vielen Abgründen man, ohne es zu wissen, vorbeigeschrammt war, in wie viele Gefahren man sich unbewusst begeben hatte, an welch seidenem Faden doch das Leben oft hing. Er schüttelte den Kopf. Er öffnete das Fenster einen Spalt, um zu rauchen.
    Warme Luft strömte herein. Die Geräusche vom Swimmingpool des Hotels waren nun deutlicher zu hören, die Telefongespräche, die Cocktails, das Geplätscher. Kurz war er versucht, ihr ein Bad im Pool vorzuschlagen, aber er kam sofort wieder davon ab, als er sich vorstellte, er müsse mit einem jungen, bekifften Schauspieler sprechen oder mit einer Fußballerbraut bei einem Drink oder mit irgendeiner Doppelgängerin von Paris Hilton – und diese Gefahr lauerte auf jeden, der sich in die Nähe der Sonnenschirme wagte, zur klassischen Martini-Zeit zwischen den Liegestühlen herumspazierte und sich zu den anderen setzte, den Blick nach Westen gerichtet, ganz dieser reizenden Sitte folgend, die verlangte, dass man dem Sonnenuntergang applaudierte, genauso wie man dem Piloten einer 747 applaudierte, der eine einwandfreie Landung hinlegte, diese Art kindischen Verhaltens, die bewies, dass Dummheit in Gruppen generiert wurde.
    Wie viele Hotels in der Gegend waren jedes Wochenende ausgebucht, wie viele Kerzen brannten, wie viele Candle-Light-Dinner wurden veranstaltet, wie viele Ehebrüche begangen? Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, wenn er an das Bild dachte, das sich die Leute hier von ihm machten und zu dem er wohl oder übel stehen musste – denn er bezweifelte, dass sie lieber auf einem Campingplatz gezeltet und Döner gegessen hätte.
    Seine zusammengelegte Hose lag auf dem Sessel, auf dem Teppich davor glitzerte Glasstaub. Als der Bildschirm zu Bruch gegangen war, hatte er einen hohlen, dumpfen Ton von sich gegeben, und der Staub war ihm, durch einen Schlitz im Karton, den er mit hochgereckten Armen zwischen zwei Autos durch trug, wie Regen auf den Kopf gerieselt.
    Der 50-Zoll-Flatscreen, den er Richards Bruder hatte zurückbringen wollen, war zertrümmert. Er war gegen die Ecke eines schweren, schon älteren Ladenschilds mit Metallgestänge gestoßen, das der starke Wind tags zuvor verbogen hatte und das nun über dem Gehweg hing. Im selben Moment durchfuhr ihn von seinem Steißbein aus ein gewaltiger Schmerz und war gleich darauf wie durch Zauberei wieder verschwunden, er stand da wie vom Blitz getroffen, voller Angst vor einem zweiten,

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