Die Rebellin von Leiland 2: Das Gift des Herzogs (German Edition)
bewältigte sie den gesamten Steilhang; nur die Pflöcke zeugten noch davon, dass sie hier vorbeigekommen war. Zumindest wusste Andin nun, wie sie die Palastmauern würden emporsteigen können.
Er legte den Armschutz an, den sie ihm geschenkt hatte, und nahm denselben Weg. Oben auf der Klippe angekommen stellte er bekümmert fest, dass Victoria schon verschwunden war. Laut seufzend setzte er sich ins Gras. Auf was für ein Abenteuer hatte er sich nun wieder eingelassen?
Plötzlich streifte ein leichter, warmer Duft nach Blüten und Honig seine Nase. Hinter den ersten Bäumen des Verbotenen Waldes bewegten sich Blätter. Andin wandte den Kopf und verdrängte alle bösen Vorahnungen.
» Chloe?«, fragte er, ohne zu verstehen, wie dieser Name ihm in den Mund geraten war.
Schweigen antwortete ihm, aber der unaufdringliche Geruch blieb bestehen. Da erinnerte sich Andin, wann er ihn das erste Mal wahrgenommen hatte: Er stammte von der Person, die hi nter den Büschen verborgen nach dem Kind gerufen hatte.
Andin setzte ein der Situation angemessenes Lächeln auf, eines, das von einer freudigen Entdeckung sprach.
» Selene«, sagte er leise.
Sie antwortete nicht, aber Andin wusste, dass er richtig geraten hatte. Erwans Frau stand in den Schatten des Waldes: Hinter einem Baumstamm sah der Saum eines weißen Stoffstücks hervor.
» Komm, hab keine Angst«, sagte Andin ruhig. » Ich habe noch nie eine Scylin getroffen– warum sollte ich dir etwas Böses tun?«
» Du kommst wirklich aus Pandema?«, fragte die ängstliche junge Frau, immer noch verborgen.
» Ja.«
Er zog das durchnässte Hemd aus und enthüllte seinen immer noch sonnengebräunten Oberkörper. » Mein Land ist das der Sonne, nicht das des Eises.«
Sie bewegte sich. Eine Hand legte sich auf den Baumstamm, zart und weiß wie Schnee; dann erschienen der Arm, ein Teil der Schulter, ein von hellen Sandalenriemen umschlungenes Bein. Eine milchweiße Tunika folgte; sie reichte einem Körper von zerbrechlicher Magerkeit bis an die Knie und betonte seine Blässe. Der Kopf wandte sich. Die weißblonden Haare, die unterhalb der Ohren auf gleicher Länge abgeschnitten waren, enthüllten riesengroße, leicht verhangene Augen in einem ebenmäßigen Gesicht. Sie waren von kristallklarem Türkis, wie eine Quelle.
Selene hatte Angst. Ihre Gefühle waren ihr vom Gesicht abzulesen. Aber trotz ihrer offenkundigen Verwundbarkeit wagte sie sich vor und verließ den Schatten der Bäume.
Selene war kaum größer als ihr Mann, und ihre dreißig Jahre waren ihr ebenso wenig anzusehen wie dem Gesicht des Zwergs seine vierzig. Sie hätte eine Kreideskulptur sein können, die eine gertenschlanke Frau darstellte: Zierlich, zartgliedrig, beinahe dürr. Dennoch hatte sie den Mut, ihre Angst zu überwinden, und näherte sich Andin. Der junge Mann hätte sich nie träumen lassen, dass eine Scylin derart klein und zerbrechlich aussehen könnte.
Bei jedem Schritt gewann sie an Selbstsicherheit, und Andin sah sowohl ihren Augen als auch ihren Lippen an, dass sie ihre Furcht verlor. Er ermutigte sie mit einem Lächeln. Der verängstigte Gesichtsausdruck wich einem sanften, etwas nostalgischen Blick.
» Du musst mich für ziemlich furchtsam und dumm halten«, sagte sie verschämt.
» Warum? Ich weiß doch nichts über die schreckliche Vergangenheit, die ich in deinem Herzen zu wecken scheine.«
» Erwan hat einmal mehr recht«, bemerkte sie mit der Andeutung eines Lächelns.
» Hat er dich gezwungen herzukommen?«
» Erwan hat mir nie einen Befehl gegeben«, antwortete sie. » Er war gestern Abend zwar über mein Verhalten enttäuscht, aber er hat keinerlei Zwang auf mich ausgeübt. Ich bin aus freiem Willen hier.«
Sie setzte sich ins grüne Gras. Obwohl sie einen gewissen Abstand von dem jungen Mann hielt, fürchtete sie ihn nicht mehr.
Von allen Frauen des Verbotenen Waldes trug sie am meisten Schmuck, ohne jedoch davon überladen zu wirken. Andin hatte diesen zusätzlichen Unterschied bemerkt. Ein zartes Metallplättchen schmückte ihren Hals, drei runde, flache Münzen hingen an jedem ihrer Ohrläppchen, und ihre beiden Handgelenke waren von breiten, ziselierten Armreifen umgeben. Alles bestand aus Silber und hätte den Eindruck von Kälte noch unterstreichen müssen, aber eigentlich hätte jede andere Metallfarbe sich mit ihrem Teint gebissen.
Selene spielte mit einer Blume, ohne sie zu pflücken, und musterte Andin aus ihren großen Augen. Sie hatten dieselbe
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