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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Kasten nie bei ihm in Tepelenë angekommen war, musste der Albaner auch alles darangesetzt haben, um herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Natürlich würde er eine hohe Belohnung ausgesetzt und genau gewusst haben, wie und in welchen Kreisen die Nachricht zu verbreiten wäre.
    Dass inzwischen dreißig Jahre vergangen waren, hatte nichts zu bedeuten. Vassiliki kannte ihre Landsleute und wusste, wie schnell Legenden entstehen konnten. Ganz sicher gab es eine Menge Menschen des räuberischen Gewerbes, die wie die Ritter der Tafelrunde nach dem Heiligen Gral nach dem grünen Kasten von Ali Pascha suchten. Ali Pascha würde nie enthüllt haben, was sich in dem Kasten befand, und Vassiliki wollte gar nicht daran denken, was mit all jenen Räubern geschehen sein musste, die ihm mit diversen anderen grünen Kästen vor die Augen getreten waren.
    Weil Tombasis Männer sogar das außerordentlich kostbare Schwert von Nikolaos Mavrojenous zurückgegeben hatten, war Vassiliki davon überzeugt, dass der Kasten den Weg zurück in Ali Paschas Reich gefunden hatte. Ob seine Söhne die Männer reich entlohnt hatten? Selim wohl kaum, dachte Vassiliki, der hat von beiden Eltern nur das Schlechte geerbt. Er würde seine Halbbrüder gegeneinander ausgespielt und sich den Kasten angeeignet haben. Vassiliki wusste, dass Selim sie unmöglich erkennen könnte. Sie war noch keine vierzig und immer noch recht ansehnlich gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Außerdem hatte er sie sich nie genauer angeschaut.
    Nachdem sie sich in Tripolis von Mando verabschiedet hatte, war sie mit der Post nach Jannina gereist und hatte sich demütig in der Palastküche vorgestellt. Der Zufall wollte es, dass eine Magd gerade an Malaria gestorben war, sodass es einen Platz für Vassiliki gab. Sie war erleichtert keine bekannten Gesichter aus Tepelenë zu sehen.
    Nach ihrer Beförderung erhielt sie Zugang zu den edlen Gemächern, allerdings wurde sie dabei immer von einem Wächter begleitet, der Acht gab, dass sie nichts mitgehen ließ und sie gelegentlich auch darauf hinwies, wo der Staub noch nicht gänzlich entfernt war.
    Sie hatte richtig vermutet! Auf einem Ehrenplatz in einem der weitläufigen Salons stand der grüne Kasten. Er war immer weit geöffnet, sodass es aussah, als ob Zeus sich jeden Augenblick erheben und die Decke des Kastens durchbrechen würde. Als sie die Statue das erste Mal abstaubte, zitterte sie so sehr, dass der Wächter jemanden rief, Holz im Kamin nachzulegen. Wenn sogar eine einfache und abgehärtete Dienerin in dem Raum fror, konnte man Selim Paschas Frauen unmöglich zumuten sich dieser Kälte auszusetzen.
    Vassiliki litt Tantalusqualen. Dem begehrten Objekt so nah zu sein und es doch nicht entfernen zu können, war ein unerträglicher Gedanke.
    Als sie sich abends mit den anderen Dienerinnen in dem ungeheizten Kellerraum zu Bett begab, zermarterte sie sich den Kopf. Sie schlug mit der Faust gegen die feuchte Wand, neben der ihr Bett stand und verfluchte ihre alten Knochen. Einer Frau, der es sogar gelungen war, mit einem Wertgegenstand aus dem Serail zu flüchten, müsste es doch erst recht glücken, ihn auch aus Selims Palast in Jannina zu entfernen.
    Gut, sie war älter und weniger beweglich, dafür aber hatte sie eine Menge gelernt, war schlauer und listenreicher geworden. Wo die Körperkraft fehlte, musste der Geist übernehmen. Ihr würde schon etwas einfallen.
    Unter solchen Gedanken schlief sie erheblich beruhigter ein, allerdings nicht, ohne vorher den Herrn und die Panagia zu bitten, Mando, Marcus und Ypsilanti zu beschützen und Letzteren blind für die Liebe der beiden anderen zu machen.
    Am nächsten Nachmittag sah sie ihren Sohn. Sie hatte in einem Salon gerade eine Kristallvase abgestaubt, als sie eine Stimme vernahm, die sie unter tausenden wieder erkannt hätte. Augenblicklich stellte sie die Vase wieder auf den Sims und griff stattdessen zu einer Holzfigur, ein Gegenstand, der ihr ohne katastrophale Folgen aus der Hand würde fallen können.
    »Wenn es wieder ein Mädchen ist, dann verstoße ich dich!«, hörte sie Selim drohen.
    »Habe Mitleid!«, kam eine klagende Frauenstimme.
    Vassiliki stellte die Holzfigur weg, stieg auf den Putzhocker und begann mit einem Tuch den großen venezianischen Spiegel über dem Kamin zu reiben. Als Erstes fiel ihr auf, wie grau Selims Bart geworden war, wie gelb sein Gebiss und wie wenig der beinahe 50-Jährige seinem dickbäuchigen Vater Ali Pascha glich.

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