Die Regentin (German Edition)
zurück, wenn ihr einer aus dem gemeinen Volke derart nahe kam. Sie hatte sich nicht gescheut, sogleich zu Hilfe zu eilen, kaum dass sie von der erbärmlich schlechten Ernte und der Hungersnot gehört hatte, die darob im Laufe des Herbstes und im Winter zu befürchten stand. Sie ließ sich auch nicht davon abhalten, mit den Einfachsten und Ärmsten selbst zu sprechen. Doch wenngleich sie gelernt hatte, auf geschundene Sklaven zu schauen und die Erinnerung an Quentovic auszumerzen, wenngleich sie einfache Bauernhäuser betrat und deren dreckige, zerlumpte Bewohner musterte, ohne von Erinnerung an das grässliche Pack heimgesucht zu werden, das einst vor ihren Augen Sicho erschlagen hatte, wollte sie doch von keinem berührt werden.
Es bedurfte sämtlicher Kraft und Überwindung, um über diese – bedrohlich nahen – Hände hinwegzusehen und sich daran zuerinnern, warum sie hier war. Nach altem Glauben war es der König aus dem Geschlecht der Merowinger höchstselbst, welcher beim Herrgott Fürsprache für gute Ernte und das Wohlgedeihen des Viehs einlegte. Traf einen Landstrich jedoch Not, so konnte freilich schnell der Verdacht entstehen, dass es dessen Sünde war, die solche gebar.
Bathildis ahnte, was zu befürchten stand, überließe sie das Volk sich selbst in dieser Stunde. Gar mancher würde, nicht ohne Bitterkeit und stille Flüche, zu fragen beginnen, was im Frühjahr die Hagelstürme bewirkt hatten und jetzt im späten Sommer die gleißende Hitze, die niemals vom Regen durchbrochen war. Vielleicht würde dann ihr Name fallen und ausführlich beredet, ob es einer Frau zustand, ein Land zu beherrschen – und sei’s auch im Namen ihres Sohnes.
»Doch sag«, sprach sie darum entschlossen über ihren Widerwillen weg, »wenn jetzt noch Regen fiele, wär Euch dann geholfen?«
Der Mann entblößte seine gebrochenen Zähne und stöhnte erbarmungswürdig. Gewiss hatte man ihn, als man im Dorf von ihrem Besuch erfuhr, als jenen auserwählt, der ihr am eindringlichsten die Lage beschreiben konnte.
»Meine Königin«, klagte er, »vielleicht habt Ihr davon gehört, dass wir alles Weideland nur drei Jahre nutzen können, länger nicht. So lange gedeihen Roggen, Dinkel oder Hafer, hernach jedoch ist der Boden leer von allem, was das Getreide zum Wachsen braucht. Aus diesem Grund machen wir eine Wiese draus, sodass das Vieh dort grasen kann, und beackern ein neues Feld. Nun, genau das war unser Trachten in diesem Frühling, doch ist das erste Jahr für einen neuen Boden stets das Schlimmste. Mit sehr viel Glück wächst alles gut... doch diesmal war die Erde fest und hart, als wir die ersten Furchen zogen. Im Schweiße unseres Angesichts haben wir das getan, denn Ochsen sind zu teures Gut für uns. Am Ende unserer Mühen war das, was aufging, spärlich, dünn und flach... Und dann der Hagel...«
Bathildis war vor dem Gehöft stehen geblieben, aus Flechten erbaut und mit Lehm verstrichen wie alle hier. Ihrem unverhofften Erscheinen war erst erstauntes Tuscheln gefolgt, dann tiefe Stille. Die Mönche, die sie stets begleiteten, waren ein vertrauter Anblick – nicht aber die Antrustionen, die eher Bedrohung verhießen statt Hilfe. Keiner wagte, die groß gewachsene, vornehme Frau offen anzustarren, doch immer dann, wenn sie auf jenen sah, den man als Redner auserkoren, trafen sie verstohlene und furchtsame Blicke.
»Nun«, meinte Bathildis und ließ den Blick unmerklich über die Leute des Dorfes kreisen, »wie viel Getreide werdet ihr brauchen, um durch Herbst und Winter zu kommen?«
»O, meine Königin!«
Der Mann ließ sich zwar steif, jedoch entschieden auf die Knie fallen. »O, meine Königin! Der Hunger ist nicht das Einzige, was uns bedroht! Es scheint, diese eine Geißel reicht nicht, uns zu treffen. Noch eine andere Plage...«
Er brach ab, und als wäre es auf seine Rede abgestimmt, war – nicht aus seinem Mund, sondern vom Inneren des Hauses – ein langgezogenes Stöhnen zu vernehmen, so tief und grunzend, dass es kaum menschlich klang.
Fast einen Monat lang – so lange fuhr sie von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt – erblickte sie ähnlich grausige Bilder: ängstliche Menschen, die untätig und verzagt vor ihren trockenen Feldern standen, und kleine Kinder, welchen schon jetzt die Bäuche aufgequollen waren. Stand eine Hungersnot bevor, gab man ihnen nur Gras und Wurzeln zu essen und behielt das knappe Mehl den Erwachsenen vor, denn die Kleinen, die als Waisen ohnehin nicht überleben würden,
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