Die Regentin (German Edition)
ihr.
Niemand antwortete. Es war nicht vonnöten. Mit noch immer blinzelnden, ja ob der heftigen Sonne tränenden Augen erblickte sie ein grauenhaftes Bild.
VI. Kapitel
Die Leiber waren so fest aneinandergepresst, dass sie nichts weiter ergaben als einen riesigen Batzen Menschenfleisch – verschwitzt und verwundet, geschwächt und verloren, gepeinigt und aufgedunsen. Handgelenke eiterten unter den Fesseln, auf zerschlagenen Rücken verkrusteten die roten Wunden der Peitsche, Frauen bluteten zwischen den Beinen. Manche, weil sie dem künftigen Besitzer ein neugeborenes Kind vom einstigen Herrn mitbrachten, andere, weil sie von den Entführern und Eroberern geschändet worden waren.
Sauer stanken die Wunden der Männer, die als Kriegsgefangene hierher gebracht worden waren. Die einen hatten die Glieder noch im Kampf verloren – die anderen waren von so hohem Rang, dass man ihnen nach der Schlacht die Zunge abgeschnitten oder sie geblendet hatte.
Nicht schlimmer könnte ein Rudel hungriger Wölfe wüten, ging Bathildis durch den Kopf, als man sie und Aidan vom Schiff zerrte und ans Land brachte, sodann durch die stinkende, gequälte Menschenmasse hindurchührte und schließlich an einem Stück Holz festband, das wie ein Baumstumpf aussah.
Aidan musste Ähnliches durch den Kopf gegangen sein, denn sein Gesicht färbte sich grünlich. Am Schiff hatte er sich niemals übergeben, doch hier sah er aus, als stünde er kurz davor.
»Wo... wo sind wir nur hingeraten?«, fragte sie.
Aidan ächzte, als einer der Nordmänner seine Fesseln festzurrte. Hernach ließ er den Kopf sinken und verweigerte ihr die Antwort.
»Aidan... wo?«
Er hob den Blick nicht. »Es ist kein menschlicher Ort«, war das Letzte, was er sagte, ehe er die folgenden Stunden schweigend über sich ergehen ließ. Die einzigen verbleibenden Laute klangen nach Schmerz, denn manchmal knickten seine Knie vor Schwäche ein, und er ließ den Körper in die Fesseln fallen, worauf ihm diese so schmerzhaft in die Haut schnitten, dass er leise aufheulte.
Bathildis reckte den Kopf, so weit es ihr möglich war, und entdeckte alsbald, dass in dieser kleinen Stadt – an der sandumgrenzten Mündung eines Flusses gelegen und von einem Wall umgeben – auch mit anderem gehandelt wurde als nur mit Menschen. Schiffe, noch größere als jenes, mit dem sie gekommen war, erreichten den Hafen und brachten kostbare Fracht: Schwertgriffe und Geschmeide, Töpferware und Glasperlen, Pelze und Walross-Elfenbein.
Von weiter hinten, von dort, wo die erste Reihe der Langhäuser stand, erklang ein lebhaftes Summen. Eine Frau freute sich, dass ihr der Mann einen besonders kunstvollen Hornkamm erstand. Eine andere begutachtete eine Amphore. Gleich daneben saßen Handwerker, die vor den Augen der Flanierenden die Rohstoffe verarbeiteten.
Beim Anblick der Amphore begann Bathildis der Mund trocken zu werden.
»Aidan... ich bin durstig...«
Kein Laut. Wiewohl er die schmerzenden Fesseln fürchtete, ließ er sich weiterhin dareinfallen und ließ Kopf und Schultern hängen.
Alle anderen freilich, die sie hätten hören können, scherten sich nicht um ihre trockene Kehle noch um den knurrenden Magen, und schon gar nicht um ein anderes Bedürfnis, das umdie Mittagszeit noch dringlicher wurde: Sie musste ihre Blase entleeren. Mit wachsender Verzweiflung hielt sie Ausschau nach jenem der fremden Krieger, der sie hier festgebunden hatte, doch jener war in der Menge verschwunden, um sich an einem großen Krug Met gütlich zu tun, und die fremden Gesichter, die an seiner statt auftauchten, riefen immerzu ihr unverständliche Worte. Erst mit der Zeit verstand sie, dass dies Angebote für die Mitgefangenen waren. Einer nach dem anderen wurde begutachtet, losgebunden, schließlich am Strick weggeführt. Bezahlt wurde nicht mit Münzen, sondern einmal – für den kräftigsten der Bauern – mit zwei Schiffstauen, von denen jedes sechzig Ellen lang war, ein andermal mit fünfzehn Marderfellen oder ein paar Scheffeln Federn und manchmal auch – vor allem, wenn Frauen das Handelsgut waren – mit einem Kittel aus Otterfell oder Tran für die Öllampen.
Für Aidan und Bathildis zahlte niemand. Als der Drang zwischen ihren Beinen noch übermächtiger wurde als der Durst, gab sie ihm nach, fühlte die heiße, brennende Flüssigkeit ihre Beine entlanglaufen und wand sich vor Scham – um freilich alsbald zu merken, dass sich niemand um diese äußerste Erniedrigung scherte. Längst waren ihre
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