Die Regentin (German Edition)
frohes, leichtes Leben, nicht erdrückt von Qual und Einsamkeit.
»O Aidan«, seufzte sie lang und tief und fragte sich, ob er ähnlich schuften musste wie die Männer, denen sie tagtäglich bei der Arbeit zusah, ob er sich vielleicht befreit hatte oder ob er es womöglich nicht geschafft hatte...
Nein, diesen Gedanken konnte sie nicht zu Ende führen. Unmöglichwäre es – trotz des schönen Sommer das Dasein zu erdulden, wüsste sie Aidan tot.
Ich werde dich Wiedersehen, dachte sie. Über eine ihrer Backen floss eine Träne, nicht verzweifelt wie früher, sondern von süßlichem Weh. Ich werde dich Wiedersehen.
Am Sonntag wurde nicht gearbeitet, denn jeder wusste, dass Gott das nicht gefiel. Wer dann Brot buk, dem verbrannte es, so wie von einer Bäckerin, einer Pistrix, berichtet wurde, und von einer Sklavin hatte man gehört, dass ihre Hände in Wollknäuel verwandelt worden waren, kaum dass sie zu weben begonnen hatte. Erst als sie vor dem Kruzifix betete und heulend versprach, sich nie wieder gegen eines der Gebote zu erheben, da erhielt sie ihre Finger zurück.
Bathildis gehörte zu den wenigen, die die Messfeier in lateinischer Sprache verstanden. Sie schulte ihren Geist, indem sie die Wörter übersetzte, doch mehr noch als das bereitete es ihr Freude, einfach still zu knien und die Lichtsprenkel zu betrachten, die durch die Glasfenster ins graue Gemäuer fielen. (Fast jede Kirche hatte solche Fenster, obwohl kaum einer mehr wusste, wie Glas herzustellen war, und es mitunter nur gelang, neue Fenster zu machen, indem man Weingläser einschmolz.)
In jenen Stunden wähnte sie sich in die Kindheit im Kloster zurückversetzt, und jedes Mal, wenn sie die Kirche wieder verlassen musste (für Sklaven war dies nach dem Vaterunser; nur wenn ein Bischof zelebrierte, durften auch sie bis zum Schlusssegen bleiben), war ihr die Kehle vor Rührung so eng, dass sie fast eine Stunde nichts zu sagen vermochte.
Dass es in jeder Woche eine Zeit gab, die ihr die Ahnung von Frieden schenkte, bedeutete, dass sie diese Zeit herbeisehnte und die Tage nicht länger im grauen Alltagseinerlei versanken. Sie begann, sich auf den Sonntag vorzubereiten, indem sie am Abend zuvor die Hände im Fluss sauber wusch und manchmalauch das Haar und indem sie sich von Oda Nähzeug erbat, um ihren Kittel notdürftig zu flicken.
Jene gewährte es ihr, wie sie ihr dann und wann auch erlaubte, an den Sonntagnachmittagen ein Stück Fleisch zu essen und am gleichen Tisch zu sitzen wie der Küchenmeister. Bereits dort wurde viel beredet, am meisten aber wurde geschwatzt, wenn die Weiber unter sich weilten, an regnerischen Tagen um die Feuerstelle hockend oder an sonnigen im warmen Hof.
Auch viele der anderen Unfreien waren nicht im Frankenreich geboren, sondern von fernen Ländern hierher verschleppt worden, aus Thüringen oder Sachsen, dem Reich der Ghepiden oder dem der Friesen, und wenn sie von der Geschichte ihres Volkes sprachen, an die sie sich selbst erinnerten oder die ihnen von Vorfahren überliefert worden waren, dann hörte Bathildis oft jenen Kummer und jene schmerzhafte Sehnsucht aus ihren Stimmen, wie sie ihr selbst nur allzu vertraut waren. Gewiss, es war ein ungeschriebenes Gebot, dass man Heimweh und Sehnsucht nicht benennen durfte. Stolz auf das Herkunftsland war gestattet – nicht aber das Eingeständnis, wie sehr man sich dorthin zurückwünschte. Vielleicht wäre der Kummer dann unerträglich geworden. Aber es war gut zu wissen, dass es andere gab, die ihr Schicksal teilten.
Doch nicht nur von der Herkunft anderer Sklavinnen erfuhr Bathildis bei diesen Zusammenkünften, sondern noch mehr vom Geschlecht der Merowinger, welches im Frankenreich schon seit vielen Jahrhunderten herrschte.
»Es hat einen König gegeben«, begann eine der Frauen mit aufgeregtem Kichern, weil es womöglich gefährlich war, der Königsfamilie Schlechtes nachzusagen, »welcher Chlothar hieß. Er wollte das ganze Land für sich, und als sein Bruder starb, so hat er seine Neffen eigenhändig ermordet.«
»Ist nicht wahr!«
»Doch, so ist’s! Und der andere Bruder, welcher Childebert hieß, hat dabei zugesehen.«
»Ist nicht wahr!«, rief Bathildis ein zweites Mal.
»’s ist sogar noch schlimmer«, schaltete sich Oda mit zusammengekniffenen Augen ein. »Am Ende seines Lebens hatte jener König den eigenen Sohn auf dem Gewissen. Chramn hieß jener und hat sich gegen den Vater erhoben, um ihm die Krone zu rauben, obwohl jeder weiß, dass Gott
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