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Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)

Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition)

Titel: Die Rolling-Stone-Jahre (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hunter S. Thompson
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Los-Angeles-County-Hilfssheriff eine Tränengasgranate durch die Eingangstür und rasierte dadurch Ruben Salazar den halben Kopf ab. Alle anderen Gäste entkamen durch die Hintertür in eine Seitenstraße, aber Salazar stand niemals wieder auf. Er starb auf dem Fußboden in einer Wolke Tränengas – und als man Stunden später endlich seinen Leichnam hinaustrug, war sein Name schon der eines Märtyrers. Es dauerte keine 24 Stunden, da reichte schon die bloße Erwähnung des Namens »Ruben Salazar«, um die Menschen nicht nur am Whittier Boulevard, sondern überall in East L. A. in Tränen ausbrechen zu lassen oder sie zu Zorntiraden und Drohgebärden mit geballten Fäusten zu veranlassen.
    Hausfrauen mittleren Alters, die sich nie für etwas anderes gehalten hatten als benachteiligte »Mexiko-Amerikaner«, die ihr Bestes taten, um sich in der gemeinen Gringowelt durchzuschlagen, ertappten sich plötzlich dabei, dass sie in aller Öffentlichkeit »Viva La Raza« riefen. Und ihre Ehemänner – einsilbige »Safeway«-Handlanger und Verkäufer für Gartenbedarf, die niedrigsten und entbehrlichsten Kader im großen Räderwerk der Gabacho-Wirtschaft – erklärten sich freiwillig bereit zu bekennen : ja, vor Gericht aufzustehen oder wo immer sonst und sich selbst Chicanos zu nennen. Die Bezeichnung »Mexiko-Amerikaner« fiel massiv in Ungnade, bei allen bis auf die Alten, die Konservativen – und die Reichen. Sie bedeutete plötzlich »Onkel Tom«. Oder, im Slang von East L. A. – »Tio Taco«. Der Unterschied zwischen einem Mexiko-Amerikaner und einem Chicano wurde zum Unterschied zwischen einem Neger und einem Schwarzen.
    Und all dies geschah überaus schnell. Zu schnell für die meisten Leute. Eines der Grundgesetze der Politik lautet: Aktion entfernt sich von der Mitte. Die Mitte ist nur populär, wenn nichts geschieht. Und in East L. A. war politisch lange nichts Ernsthaftes geschehen, länger, als die meisten Leute sich erinnern können. Bis vor sechs Monaten war die gesamte Gegend ein farbenfrohes Mausoleum, ein gigantischer Slum aus Lärm und billiger Arbeitskraft, nur einen Gewehrschuss vom Herzen von Downtown Los Angeles entfernt. Das Barrio ist, wie Watts, eigentlich Teil des Stadtkerns – während Orte wie Hollywood oder Santa Monica separate Einheiten bilden. Das Silver Dollar Café liegt zehn Autominuten von der City Hall entfernt. Den Sunset Strip erreicht man in flotten dreißig Minuten über den Hollywood Freeway.
    Der Whittier Boulevard liegt höllisch weit entfernt von Hollywood, in jeder Beziehung. Es gibt nicht die geringste geistige oder psychische Verbindung. Nach einer Woche tief in den Eingeweiden von East L. A. überfiel mich ein vages Schuldgefühl, als ich die Bar des Beverly Hills Hotel betrat und mir einen Drink bestellte – so als gehörte ich nicht wirklich dorthin und als wüssten die Kellner das auch sehr genau. Ich war schon dort gewesen, unter anderen Umständen, und hatte mich total wohlgefühlt. Oder zumindest fast total. Man kann einfach nicht … ach, zum Teufel damit! Entscheidend ist, dass ich mich diesmal anders fühlte. Ich war an einer absolut anderen Welt orientiert – die nur fünfzehn Meilen entfernt lag.
    Meine erste Nacht im Hotel Ashmun brachte kaum Ruhe. Die anderen waren um fünf Uhr gegangen, dann gab es den Junkieaufstand gegen sieben … und eine halbe Stunde später legte im Boulevard Café auf der anderen Straßenseite die Musikbox los: dröhnte jaulige Norteno-Musik in Low-Fidelity … und schließlich, gegen neun Uhr dreißig, schreckte ich hoch, weil auf dem Gehsteig direkt unter meinem Fenster lautes Gepfeife zu hören war und eine Stimme rief: »Hunter! Wach auf, Mann. Wir müssen in die Gänge kommen!«
    Heiliger Jesus!, dachte ich. Nur drei Menschen auf der Welt wissen, wo ich in diesem Augenblick bin, und alle drei schlafen. Wer konnte mir also an diesem Ort auf die Spur gekommen sein? Ich bog die Metalllamellen der Jalousie gerade so weit auf, dass ich hindurchlinsen konnte, und sah unten auf der Straße Rudy Sanchez, Oscars schweigsamen kleinen Leibwächter. Er blickte zu meinem Fenster hinauf und winkte fordernd: »Komm schon runter, Mann, es wird Zeit. Oscar und Benny sind oben an der Straße im Sweetheart, das ist die Bar an der Ecke, vor der all die Leute draußen stehen. Wir warten da auf dich, okay? Bist du wach?«
    »Klar bin ich wach«, sagte ich. »Ich sitze hier und warte auf euch, ihr faulen Verbrecherhunde. Warum brauchen Mexikaner bloß

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