Die Rose von Darjeeling - Roman
dem Knispeln auslaufender Wellen. Carl wusste, dass er nie wieder am Meer sitzen, den Wellenschlag hören und Salzluft schmecken könnte, ohne dabei an Kathryn zu denken. Auch Kathryn speicherte jeden Sinneseindruck. Im weichen Sand sitzen, die frische Seebrise atmen, sich von der Sonne die Nase kitzeln lassen – all das war eine zukünftige Erinnerung an ihre Liebe. »Morgen müssen wir aufbrechen«, sagte Carl bestürzt. Sie waren Weltmeister im Verdrängen geworden.
Kathryn schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »O Gott!«
Warum musste die Frau, die er liebte und glücklich machen wollte, hier neben ihm leiden? Carl sprang auf. »Kathryn, lass uns zusammen bleiben! Wir haben über zwanzig Jahre auf diese Gelegenheit gewartet. Die Verantwortung kann mir gestohlen bleiben!« Er brüllte den letzten Satz. Heftig packte er sie an den Schultern, zog sie hoch und schüttelte sie, als müsste er sie aufwecken. »Ich liebe dich, ohne dich geh ich zugrunde! Nach allem, was war … Es kann doch gar nicht funktionieren, zurück ins alte Leben zu gehen. Sieh mich an!« Er hob mit zwei Fingern ihr Kinn. »Unsere Liebe hat sogar diesen verdammten Krieg überstanden.«
Kathryn brach in Tränen aus. »Aber deine Frau ist schwanger. Deine Familie ist doch abhängig von dir …« Die Beine sackten ihr weg. Carl fing sie auf, wimmernd lag sie in seinen Armen.
Eine lange Zeit standen sie nur so da, niemand sagte etwas. Langsam beruhigte Kathryn sich. Sie musste jetzt die Vernünftigere sein. Entschieden wischte sie sich die Tränen weg und drückte Carl die Hand.
»Bitte, Carl, mach es uns nicht noch schwerer. Wir haben alles besprochen. Es ist besser so.«
Schweigend gingen sie zurück ins Gästehäuschen. Carl verschwand im Badezimmer. »Ich brauch jetzt eine eiskalte Dusche«.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer fiel Kathryns Blick in das Schlafzimmer. Auf der Kommode saß die Bärchenfamilie. In diesem Augenblick schwand jegliche Spannkraft aus ihrem Körper. Kathryn brach zusammen. Sie lag auf dem nackten Steinfußboden, als Carl aus dem Bad zurückkam. Ein Weinkrampf schüttelte sie.
»Ich will nicht«, schluchzte sie. »Ich kann das einfach nicht. Carl, wir können doch irgendwo hingehen. Nach Amerika! Nach Australien! Wir fangen ganz neu an.«
»Ja, natürlich!« Er nahm sie in die Arme, fühlte ihre heißen Schläfen. »Ruhig, ganz ruhig, alles wird gut …«
»Ich kann auch Geld verdienen! Im Krieg hab ich als Rotkreuzhelferin gearbeitet.« Carl fühlte ihren Puls. Er raste. Verzweifelt brach es aus ihr heraus. »Glaub mir, ich brauch kein Herrenhaus! Ich brauche nur dich …«
Sie hatte Fieber. Carl alarmierte Sam, die sofort Titus im Krankenhaus anrief. »Hoffentlich ist es nicht die Spanische Grippe!«
Jadebusen
Mai 2010
Julia spürte etwas Nasses, Sandiges zwischen ihren knirschenden Zähnen. Sie fühlte sich benommen, ihr war furchtbar kalt, und alle Glieder taten weh. Ihre Hände – sie konnte sie nicht bewegen! Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass ihre Arme auf dem Rücken gefesselt waren. Sie lag auf der Seite, mitten in der Nacht, an einem Strand.
»Ah, jetzt wacht auch die Dame auf«, hörte sie eine höhnische Männerstimme.
Julia setzte sich gerade hin, unwillkürlich versuchte sie, den feuchten Sand an ihrer Wange mit einer Schulterbewegung abzuputzen. Vor ihr standen drei fremde Männer. Neben ihr lag Max, geknebelt und gefesselt. An seinen Augen erkannte sie, dass er bei Bewusstsein war. Der Schreck machte sie hellwach. Sie fühlte keinen Schmerz mehr.
Es war sehr dunkel. Da Julia nach den Mondphasen gärtnerte, wusste sie, dass in dieser Nacht, der Nacht zum Eröffnungstag der Rhodo, Neumond herrschte. Alle Säfte und Kräfte zogen nach innen in die Wurzeln, ins Innere der Erde. Julia versuchte, sich zu orientieren. Sandstrand. Hinter sich eine schräge Steinmauer. Ihr Herz raste. Was hatten die Kerle vor?
»Nehmt ihm das Ding aus dem Maul!«
Der Mann, der den Befehl gab, schien ein Deutscher zu sein, die beiden Schlägertypen neben ihm sahen osteuropäisch aus. Sie sagten etwas, das serbokroatisch oder polnisch sein mochte, und zogen Max grob einen zusammengeknüllten Stofffetzen aus dem Mund.
Max spuckte aus, hustete und rang nach Luft. Hatten die Kerle ihn gekidnappt, um Geld von seiner Familie zu erpressen? Mühsam brachte er sich in eine Sitzposition. Wo waren sie hier? Ein unangenehmer Wind blies von der Seite.
»So, nun sag uns endlich, wo du das
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