Die Rose von Darjeeling - Roman
obwohl sie wusste, dass es niemand hören würde. Ihre Angst und ihre Wut brauchten ein Ventil. Noch nie im Leben hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt! Sie bewegte den Kopf, schaute hoch. Über ihr wölbte sich der Busen der grünen »Jade«. Ihr Körper neigte sich in unbequemer Haltung nach vorn.
Max hörte Julia und litt Marterqualen.
»Wir haben auflaufend Wasser«, sagte der Anführer betont ruhig, als seine Gorillas zurück waren. »Überleg noch mal gut, wo du die Beweise versteckt hast. Wir geben dir Bedenkzeit. In einer Stunde steckt deine Freundin bis zum Hals im Meerwasser, in zwei Stunden ist sie Fischfutter. Wir wärmen uns jetzt ein wenig auf. Valek, du bleibst hier!«
Der Kerl, der Valek hieß, maulte Unverständliches. Er zeigte auf seine bis zu den Knien nassen Hosen. Der Anführer grunzte zurück, machte eine Kopfbewegung, und alle drei verschwanden im Dunkel.
Julia hörte auf zu schreien. Sie zog und rüttelte an den Stricken, die sich dadurch nur noch schmerzhafter in ihr Fleisch schnitten. Sie kämpfte gegen ihre Panik an. Ihr war klar, dass sie ihre Kräfte nicht sinnlos verpulvern durfte. Es war viel zu kalt für Mai. Sie würde rasch auskühlen, brauchte jede Kalorie. Und die Flut kam schnell. Julia wusste, dass der Tidenhub an dieser Stelle des Jadebusens besonders hoch war. Ein Unterschied von dreieinhalb Metern zwischen Ebbe und Flut war normal. Schon wieder würgte sie die Panik. Um nicht völlig kopflos zu werden, fing Julia an zu singen, irgendetwas Improvisiertes zwischen Kinder- und Seemannslied.
Max suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Und plötzlich fiel es ihm ein: das Gärtnermesser! Seit seinem Geburtstag trug er immer das Klappmesser bei sich, das Julia ihm geschenkt hatte. Zum Glück steckte es heute nicht in der seitlichen, sondern in der hinteren Hosentasche. Max veränderte seine Sitzposition und versuchte, mit den zusammengebundenen Händen das Messer herauszuholen. Er bekam es zu fassen, zog es langsam heraus. Verdammt, es rutschte in den Sand! Mühsam gelang es ihm, das Messer wieder zwischen die Finger zu bekommen. Irgendwie musste er es jetzt noch aufklappen. Wie lange mochten die Kerle fortbleiben?
Endlich! Das Gärtnermesser klappte auf. Vorsichtig versuchte er, seine Handfesseln aufzuschneiden. Geschafft! Rasch durchtrennte er auch die Fußfesseln. Kurz rieb er sich die schmerzenden Gelenke, dann tastete er nach seiner Brille, konnte sie aber nicht finden. Die Zeit drängte. Julia sang jetzt nicht mehr. Er hörte nur noch den Wind an beflaggten Fahnenmasten reißen, den Wellenschlag und das Glucksen volllaufender Priele.
Max hatte sich eingeprägt, dass ihre Stimme von der Figur gekommen war. Die konnte er schemenhaft ausmachen. Ob die Gangster irgendwo warm und gemütlich saßen und dabei den Strand beobachteten? Max zog Jacke und Schuhe aus, sicherheitshalber robbte er durch den Sand. Halb blind orientierte er sich an den Umrissen der Skulptur, bis sie sich etwa auf seiner Höhe befand. Dass er sich seit seiner Kindheit vorm Schwimmen im Meer fürchtete, hatte er völlig vergessen. Er musste Julia retten! Ohne weiter nachzudenken, stürzte er sich ins Wasser und schwamm auf die Skulptur zu. Hoffentlich war Julia nicht ohnmächtig geworden!
Julia zitterte am ganzen Körper, als Max sie erreichte. »Mmma…«, flüsterte sie. »D…du … bist da …«
»Ich bin da, alles wird gut …«
Eiskalt, ihr war eiskalt, in den Fingerspitzen und in den Zehen hatte sie schon kein Gefühl mehr. Julia wollte noch etwas sagen, brachte aber kein Wort über ihre bibbernden Lippen.
Max durchschnitt ihre Fesseln, so schnell er konnte. Er hielt sie einen Moment in den Armen, dann nahm er sie in den Rettungsgriff und schwamm mit ihr durch das kalte, salzige Wasser ans Ufer. Einen Moment blieben sie erschöpft im Sand liegen. Max bedeutete Julia, geduckt zu bleiben und ihm zu folgen, als er in Richtung seiner Jacke kroch. Erleichtert registrierte er, dass sie sich an Land aus eigener Kraft bewegen konnte. Er nahm die Jacke und legte sie Julia um.
»Autsch!« Max stöhnte auf, griff sich an den rechten Oberschenkel.
Verstört schaute Julia ihn an. »Was ist?«
»Ein Krampf!«
Ab und zu litt Max unter solchen Krämpfen, wenn er zu viel Sport gemacht hatte. Er stemmte das Bein gegen die Steinmauer.
»Da!«, stieß Julia hervor. Sie zeigte zur Biegung der Bucht, wo sich auf dem hellen Sandstrand aus Richtung Hafen eine Gestalt näherte. Einer der Gangster kehrte
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