Die Rose von Darjeeling - Roman
eine Schlammlawine überlebt, die ihre Mutter und ihren Bruder getötet hatte.
»Es war nicht deine Schuld!«, sagte er intuitiv.
Plötzlich konnte Kathryn wieder klar denken. Wieso wusste Carl, was sie fünf Jahre lang vor sich selbst verheimlicht hatte?
Man hatte ihr damals am Krankenbett gesagt, dass ihre Mutter und ihr Bruder bei einem Unfall mit der Pferdekutsche einen Abhang hinuntergestürzt und zu Tode gekommen seien. Kathryn wusste zwar noch, dass sie mit den beiden zusammen zu einer Spazierfahrt aufgebrochen war, aber alles andere war wie ausgelöscht gewesen. Und gleichzeitig hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass sie sich gegen etwas ganz Furchtbares abschotten müsste. Jetzt wusste sie es wieder. Sie erinnerte sich auf einmal nicht nur an den Tag, sondern auch an die Sekunden vor dem Unglück und währenddessen. Ihr Unterbewusstsein hatte die grauenvollsten Minuten ihres Lebens bislang unter einem schwarzen Schleier verborgen gehalten.
»Aber … aber ich hab gesagt: Lasst uns zum Mangohügel fahren, zum Mangohügel … da blühen die schönsten Blumen …« Sie schluchzte. »Und Mama sagte: Nein, das ist zu gefährlich … und dann hielt sie doch am Hügel an, und ich sprang auf die Wiese … und sie wollte doch nur mich zurückholen …«
Tagelang hatte es geregnet, es war Monsunzeit. Die Hänge oberhalb des Mangohügels gehörten zum Geestra-Valley-Teegarten, sie galten von jeher als unsicher. Es gab dort nicht mehr genug Bäume, die mit ihren Wurzeln das Erdreich halten konnten.
»O Gott, ich bin schuld an ihrem Tod!«
»An Erdrutschen in Darjeeling sind meist die Teepflanzer selbst schuld«, sagte Carl mit fester Stimme, »weil sie zu viele Wälder gerodet haben, aber ganz gewiss nie und niemals ein junges Mädchen, wie du es damals warst.«
Kathryn weinte und weinte, und sie hatte das Gefühl, niemals wieder aufhören zu können. So hatte sie nie zuvor um Mutter und Bruder weinen können. Wütend war sie gewesen, trotzig, ungehorsam, aufmüpfig. Und an manchen Tagen unendlich traurig, melancholisch. Oder sie hatte Angstzustände gehabt, regelrechte Panikattacken.
Carl versuchte nicht, sie am Weinen zu hindern. Wortlos wiegte er sie in den Armen.
»Wieso sind sie gestorben? Und wieso habe ich überlebt?«, schluchzte sie.
Carl wusste keine Antwort darauf.
Schließlich flüsterte Kathryn bitter: »Es war also einfach nur ein Zufall?«
Wieder sagte er nichts. Und dann spürte sie auf einmal seine Lippen auf den ihren. Sie waren rau vom Bergklima, sie jagten ihr Schauer durch den Leib. Zärtlich fuhr er über ihren Mund, küsste ihre Mundwinkel, die Wangen, die Augenlider, den Hals. Kathryn wagte sich kaum zu rühren, sie wollte jede der zartesten Empfindungen spüren. Es kribbelte am Rücken, stieg den Nacken empor, kroch unter die Kopfhaut, durchströmte sie heiß bis in den Unterleib. Carls Zunge spielte gegen ihre Zähne, öffnete ihren Mund. Sie fieberten einander entgegen, verschmolzen in einem langen, sanften Kuss.
Wieder begann Kathryn zu weinen, aber zugleich weitete sich ihr Herz. Genau das war es, darauf hatte sie gewartet, das hatte sie vermisst, ohne es zu kennen. So musste es sein.
»Und wenn wir jetzt sterben?«, flüsterte sie irgendwann und dachte: Dann habe ich das wenigstens erlebt.
»Wir werden nicht sterben«, raunte Carl. »Jedenfalls nicht heute oder morgen. Gustav holt uns hier raus. Und dann beginnt unser Leben erst richtig.«
»Wieso bist du so sicher, dass Gustav uns retten wird?«, fragte Kathryn. »Vielleicht ist er auch verschüttet.«
»Ich weiß es einfach.« Er hatte im vergangenen Winter mit Gustav genau durchgespielt, wie man sich in Notsituationen wie dieser verhielt. »Wir sitzen ja nicht unter einer Lawine fest, sondern in einer Schneehöhle.«
»Wir könnten hier heraus?«
»Ja, aber ich würde zurzeit davon abraten. Es ist da draußen bitterkalt, ein scharfer Wind weht, und vermutlich verdecken die Schneewehen auch die gefährlichen Spalten.«
»Wir hocken wirklich in einer Schneehöhle?«, wiederholte sie ungläubig.
Er lachte leise. »Der Neuschnee backt hervorragend.«
Die Höhle hatte er gegraben, als Kathryn noch bewusstlos gewesen war. Die natürlichen Gegebenheiten am Hang hatten sich dabei als hilfreich erwiesen. Carl hatte eine kuppelförmige Decke geformt und ein tunnelartiges Loch gebaut, durch das er so gerade selbst hindurch passte. Zum Glück lag es im Windschatten. Zu ihrem Schutz hatte er diesen Ausgang mit lockeren
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