Die Rosen von Montevideo
Erschöpfung konnte Valeria nicht schlafen. Fiebrige Aufregung packte sie, je länger sie auf die Lichter starrte. Seit der zweiten Nacht hatten ihre Entführer darauf verzichtet, sie abends zu fesseln, da ohnehin einer der Männer immer Wache hielt – heute war es der schwarze Brasilianer, der, wie sie mittlerweile wusste, Tshepo hieß. Valeria tat so, als würde sie zusammengerollt schlafen, hielt aber die Augen einen winzigen Spalt geöffnet, um ihn zu beobachten.
Anfangs wanderte auch sein Blick immer wieder zu ihr, doch schließlich stierte er versunken aufs Feuer und summte etwas vor sich hin – vielleicht ein Lied, das er als Kind gelernt hatte. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass diese rohen Männer jemals unschuldige Kinder gewesen waren, die auf dem Schoß der Mutter deren Liedern gelauscht hatten …
Irgendwann verstummte das Summen, und es war nur noch das Surren von Mücken, das Rauschen von Blättern und das Schnarchen der Männer zu hören.
Der Schwarze wippte mit seinem Oberkörper vor und zurück, sein Kopf sank dabei immer tiefer.
Ob er eingeschlafen war?
Valeria wagte es, sich aufzusetzen. Die Männer schnarchten weiterhin, der Schwarze regte sich nicht. Vorsichtig begann sie, vom Feuer fortzurobben. Ihr Atem ging schneller, das scharfe Gras raschelte unter ihrem Gewicht, doch der Schwarze rührte sich nicht. Endlich hatte sie einen Baum erreicht und zog sich an einem der Äste hoch. Das Holz war trocken, und der Ast knackte, aber niemand wurde wach.
Eine Weile blieb sie stehen und konnte sich nicht entscheiden, ob sie einfach losrennen sollte, was deutlich mehr Lärm verursachen würde, oder lieber langsam und möglichst lautlos davonschleichen. Die Brust tat ihr entsetzlich weh, noch ehe sie überhaupt zu laufen begonnen hatte, und ihr Herz dröhnte. Schließlich machte sie, den Blick weiterhin starr auf den Schwarzen gerichtet, die ersten Schritte. Je weiter sie sich von den Männern entfernte, desto größer wurde ihre Erregung – und schließlich gab es kein Halten mehr, und sie stürmte los. Der Boden fühlte sich unter ihren dünnen Schuhen uneben an, und mehrmals stolperte sie fast über eine Wurzel, aber davon ließ sie sich nicht bremsen. Ihr Kleid blieb an einer Ranke hängen und zerriss, doch sie hastete weiter. Und wenn sie am Ende nackt ankäme – Hauptsache, sie war in Sicherheit! Nun erkannte sie, dass es ein einzelnes Haus war, von dem das Licht kam, aber auch, dass es weiter entfernt war als gedacht. Sie verließ den Wald, überquerte eine endlos erscheinende Fläche mit dunklen, gedrungenen Silhouetten, die in der mondklaren Nacht große Schatten warfen – vielleicht Rinder, Steine oder einzelne Bäume. Anstatt es zu ergründen, blickte sie beharrlich auf das Licht und sah endlich den Zaun um jenes einsame Gehöft.
Als sie ihn erreichte, hielt sie zum ersten Mal inne. Seit Beginn ihrer Flucht fühlte sie sich irgendwie verfolgt, doch nun verstärkte sich das Unbehagen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, eine Gänsehaut breitete sich über die Unterarme aus. Jemand beobachtete sie …
Sie fuhr herum, glaubte, eine Gestalt dort zu sehen. Aber nein, es war nur ein Baum. Sie atmete tief durch, wandte sich wieder nach vorne. Da! Eine Bewegung!
Dort stand jemand hinter der Fensterluke. Da der Raum beleuchtet war, konnte sie kein Gesicht erkennen, nur Konturen, die einer Frau … oder vielmehr die eines Knaben.
Warum stand er so steif dort? Warum kam er nicht heraus, um ihr zu helfen? Er musste doch aufgrund ihres hellen Kleides erkennen, dass sie eine Frau und daher nicht gefährlich war!
Sei’s drum. Sie konnte nicht warten, bis der Knabe sich einen Ruck gab – nur darauf hoffen, dass er ihr die Tür öffnen würde. Doch um zu dieser zu gelangen, musste sie erst einmal den Zaun überwinden.
Wo war bloß das Gatter?
Eine Weile lief sie am Zaun auf und ab, aber sie erspähte keines. Als sie wieder nach der Gestalt am Fenster Ausschau hielt, erkannte sie, dass der Knabe nicht länger stocksteif dastand, sondern heftig winkte. Sie war sich nicht sicher, ob es eine Aufforderung war, sich zu beeilen, oder eine Drohung, fernzubleiben, kletterte aber einfach über das Gatter.
Als sie das Holz bereits umklammert hatte, einen Fuß darauf setzen und den anderen darüber schwingen wollte, hörte sie hinter sich ein Knacken, und ehe sie sich umdrehen konnte, packte sie plötzlich eine Hand und riss sie zurück. Verspätet begriff sie, warum der Knabe nicht ins
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