Die roten Blüten der Sehnsucht
King George dieses Kind nie erwähnt hatte. Sie hätte erwartet, dass der alte Häuptling nur zu gerne Kapital aus einem solchen Stammesmitglied geschlagen hätte. Eine weißhaarige Frau mit einem dermaßen verrunzelten Gesicht, dass es fast wie eine groteske Maske wirkte, stand plötzlich neben ihr, ergriff ihre Hand und zog sie energisch mit sich Richtung Festplatz.
» Halt, warte noch.« Dorothea wies in die Richtung, in die das Kind verschwunden war, und deutete dessen ungefähre Größe an. » Piccaninnie? Name?«, radebrechte sie in den wenigen Worten auf Ngarrindjeri, die sie kannte.
Die Frau schüttelte den Kopf und verstärkte ihre Bemühungen, Dorothea wegzuziehen.
Sie gab nach. Es hatte keinen Zweck. Hier würde sie keine Antwort erhalten.
Am Festplatz hatten die Männer bereits für den ersten Tanz Aufstellung genommen. Die Gäste aus dem Norden und die Männer von King George standen sich jeweils in einer Reihe gegenüber und schwenkten mit Emufedern geschmückte Akazienäste. Dazu hatten sie einen monotonen Singsang angestimmt, der Lady Chatwick zu der Bemerkung verleitete: » Wenn sie noch lange so weitermachen, werde ich gleich einnicken!«
Die Frauen und Kinder drängten sich an den Rändern. Dorothea verrenkte sich den Hals, aber sie konnte das seltsame, kleine Mädchen nirgends in der Menge entdecken.
» Was ist los?«, flüsterte Ian. » Du wirkst, als ob du nach einem Bekannten Ausschau halten würdest. Warum benimmst du dich so eigenartig?«
» Ich habe vorhin ein Mädchen gesehen, das sicher ein Mischlingskind war. Aber jetzt ist es verschwunden, und ich kann es nirgends sehen.«
» Sie lassen Mischlinge nicht am Leben«, sagte Ian so sachlich, als spräche er über Tierzucht. » Du musst dich also getäuscht haben.« Er ließ seinen Blick eher gleichgültig über die Menge schweifen. » Vielleicht sah es einfach nur heller aus, weil es gerade krank gewesen ist oder aus sonst einem Grund.«
Damit schien für ihn alles gesagt. Dorothea erwiderte nichts, denn ganz hinten bei den Netzen mit den getrockneten Fischseiten hatte sie die alte, runzlige Frau entdeckt. Sie redete aufgeregt auf eine andere ein. Hier und da sah sie dabei in Dorotheas Richtung, war aber zu weit entfernt, als dass man ihren Gesichtsausdruck hätte erkennen können.
Plötzlich brachen die beiden Reihen der Tänzer in lautes Geschrei aus und begannen, ihre geschmückten Äste auf den Boden zu schlagen. Dabei bewegten sie sich aufeinander zu und wichen, knapp bevor sie sich berührten, wieder zurück. Das wiederholte sich ein paar Mal, bis auf einen Schlag eine geradezu unheimliche Ruhe einkehrte. Niemand sprach, alles schien auf etwas zu warten. Nur worauf?
Parnko, der dicht neben ihnen hockte, sagte leise: » Sie haben den Platz gereinigt, und jetzt wird King George seine Ahnen anrufen, damit sie ihm auf seinem Weg in die Geisterwelt beistehen.«
Fast hätte Dorothea den Alten nicht erkannt: Schmale Streifen in Weiß und Rot zogen sich in einem bänderartigen Flechtmuster über seinen gesamten Körper. Seinen Mantel hatte er abgelegt und war, bis auf einen schmalen Grasschurz, nackt. Ihr stockte der Atem, als er ihnen sein Gesicht zuwandte. Für einen schrecklichen Augenblick glaubte sie, der Skelettmann wäre zurückgekehrt! Auch King George hatte seine Augenhöhlen und seinen Mund schwarz ummalt. In Kombination mit dem hellen Ocker, der sein übriges Gesicht bedeckte, erinnerte es frappierend an einen Totenschädel.
» Es ist nur der alte King George«, sagte Ian und fasste beruhigend nach ihrer schweißnassen Hand.
Dankbar umklammerte sie seine Rechte. Die Erinnerungen, die sie überflutet hatten, waren zu scheußlich, um sie einfach beiseitezuschieben. Während ein halbwüchsiger Junge mit einem Armvoll Holz kam und es geschickt zu einer Art Pyramide aufschichtete, kämpfte Dorothea mit den Dämonen der Vergangenheit. Auf einen Schlag waren alle schrecklichen Bilder wieder da: der Skelettmann, wie er sie in jener Nacht in so panische Angst versetzt hatte, dass sie in den Busch geflohen war und dabei ihr Kind verloren hatte; seine Fratze, die sich über sie gebeugt hatte, als er sie entführt hatte, und sein hassverzerrtes Gesicht, als er Robert ermordet hatte. Robert, ihren ersten Mann. Trotz der Hitze fröstelte sie und begann unkontrolliert zu zittern.
» Was ist los mit Ihnen, Ma’am? Werden Sie krank?« Mrs. Perkins musterte sie besorgt. » Heute Morgen ging es Ihnen doch noch ganz gut.«
Dorothea
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