Die Rückkehr des Fremden (German Edition)
der Wahrheit war hoch. War er bereit, das Risiko einzugehen?
„Kathryn, ich …“
Ein Schrei durchschnitt die Nacht.
Sie trat näher. „Was war das?“
Sie hörten es wieder, dieses Mal etwas gedämpfter. Larson steckte die Mütze in seine Hemdtasche und legte dann eine Hand auf Kathryns Arm. „Bleib hier. Ich schaue nach, was los ist.“
Da er vermutete, dass die Schreie vielleicht aus einem Vorratsgebäude neben den Baracken gekommen sein könnten, probierte er es an der Seitentür. Unverschlossen. Als er sie leicht aufschob, beleuchtete ein fahler Mondschein das Innere des Gebäudes.
Er hörte einen harten Schlag, dann einen dumpfen Aufprall.
Die Öffnung einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite ließ ein wenig mehr Licht herein. Ein Wimmern wie das eines Kindes ertönte aus einer Ecke. Es war ein jämmerliches Weinen und weckte in ihm eine Mischung aus Wut und Beschützerinstinkt. Larson tastete sich an den Regalen entlang, dann hörte er ein schlurfendes Geräusch.
„Ich tue dir nichts“, sagte er leise, als er begriff, dass das Kind sich verstecken wollte. „Ich bin hier, um dir zu helfen.“ Eine Kiste fiel von einem Regal direkt vor ihm. Er wich ihr mit Leichtigkeit aus. Vorsichtig ging er weiter und erblickte ein junges Mädchen, das sich in die Ecke kauerte.
„Gehen Sie weg“, zischte sie.
Selbst in dem schwachen Licht erkannte Larson die langen, dunklen Haare. Er hatte ihre Stimme schon einmal gehört. „Bist du verletzt?“ Er trat einen Schritt näher.
„Ich habe gesagt, Sie sollen weggehen!“, schrie sie. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als sie ihren Körper an die Wand drückte. Erst jetzt bemerkte Larson ihr Kleid. Es war von der Schulter bis nach unten aufgerissen. Sie umklammerte mit den Händen die Stücke und hielt es zusammen.
„Ich tue dir nichts. Versprochen. Ich will dir nur helfen.“
Das Mädchen schrie ihn in einer Sprache an, die Larson noch nie gehört hatte. Er hörte, wie eine Tür aufging.
„Jacob?“
„Wir sind hier drüben.“ Er sprach bewusst mit leiser Stimme und ging Kathryn entgegen. „Dort in der Ecke ist ein Mädchen. Sie ist aus dem Bordell in der Stadt. Ich glaube, sie wurde …“
Kathryn drängte sich an ihm vorbei. „Sadie!“, keuchte sie und eilte zu dem Mädchen.
Das junge Mädchen rief ihr eine schnelle Antwort in einer fremden Sprache entgegen und schaltete zwischendurch immer wieder auf Englisch um, aber dieses Mal war ihre Stimme gebrochen und verletzt. Das Mädchen klammerte sich an Kathryn, bis Kathryn schließlich neben ihr auf dem Boden saß. Larson schaute zu, als die beiden sich festhielten, wobei das Mädchen den Arm in einer sonderbar aussehenden Stellung hielt. Kathryn wiegte sie an ihrer Brust und nickte zu dem, was das Mädchen ihr zwischen ihrem Schluchzen zuflüsterte. Kathryn wiegte Sadie vor und zurück und streichelte ihre Haare, wie eine Mutter es bei ihrem Kind tun würde.
Während er diese Szene beobachtete, traf Larson eine schmerzliche Wahrheit. Die ganzen Dinge, die er Kathryn im Laufe der Jahre hatte geben wollen, die ganzen weltlichen Güter, mit denen er sie gern überhäuft hätte, sie waren alle unwichtig. Das Einzige, das Kathryn gewollt hatte, war das eine, das er ihr nicht gegeben hatte. Und das er ihr nie geben könnte. Ein anderer Mann hatte das getan, und dieser andere Mann verdiente es, sein Kind aufwachsen zu sehen. Matthew Taylor konnte Kathryn das Leben bieten, das sie verdiente. Larsons Brustkorb hob sich mühsam. Taylor könnte seiner Frau ihren Herzenswunsch erfüllen. Er hatte ihn schon erfüllt.
„Kannst du mir helfen?“ Kathryns Stimme war vor Erregung ganz heiser.
Larson hätte gern geholfen, hob aber in einer hilflosen Geste die Hände. „Sie lässt mich nicht in ihre Nähe.“
Kathryn zog Sadies Kinn liebevoll nach oben und streichelte ihre Wange. „Das ist Jacob. Er ist ein guter Mann. Er wird dir nichts tun. Er wird nicht versuchen, dich auf diese Weise zu berühren; darauf gebe ich dir mein Wort.“
Sadie schaute von Larson zu Kathryn. „Er ist wie der Mann, von dem du mir erzählt hast?“
„Ja“, sagte sie und ihr entfuhr ein leises Schluchzen. „Er ist wie dieser Mann.“ Mit Mühe stand sie auf. „Ich glaube, ihr Arm ist gebrochen, Jacob.“
Larson kam langsam näher. Sadies Haltung verriet ihm deutlich, dass sie ihm nicht traute. Das Einzige, was sie daran hinderte, das Weite zu suchen, war ihr Vertrauen zu Kathryn. Das Mädchen zuckte zusammen und wurde
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