Die Ruhelosen
leicht wurde, so leicht, dass sie in ihrem weißen Nachtgewand ihrem Liebsten, Vitale, entgegenschwebte durchs weiche weite All, in dem sie sich ganz bestimmt nirgends mehr die Füße stoßen konnte.
Serafino war mit der Rede des Pfarrers sehr zufrieden. In Eintracht standen er, Immaculata, seine Brüder und eine Handvoll Trauergäste vor dem frisch ausgehobenen Grab und warfen jeder eine Blume ins dunkle Loch der Unendlichkeit. Immaculata drückte ihrem Serafino wie zur Bestätigung die Hand, dann stupste sie ihn leicht von sich weg; Serafino hätte diese liebevolle Aufforderung gar nicht gebraucht: In Frieden mit sich selbst und so, als sei nun endlich etwas wieder ins Gleichgewicht gekommen, tat er einen Schritt nach vorne an das Grab, fasste in seine Hosentasche und zog etwas Drahtiges daraus hervor. Es war das Bild von vier Figuren, zwei großen und zwei kleinen, die in einem Rahmen aus Drahtrosen einander bei den Händen hielten.
Er warf es hinein.
Tiere der Nacht
Triest, 1887
»Ich kann es mir einfach nicht vorstellen!«
Der servile wieselflinke Kellner, der seinen Körper wie ein krummes Häkchen vorbeugte, brachte die Getränke. Abelarda tat einen wilden Schluck, der weiße Schaum verunzierte ihr Gesicht, das noch auf der Wippe von kindlich zu erwachsen hin- und herwankte, je nach Stimmung, in der sie sich befand. Sie wischte sich den Schaum mit einer schwungvollen Handbewegung weg. Sie liebte diesen herbnussigen Geschmack, der eine leichte Bitterkeit auf ihrer Zunge zurückließ, wie einen Belag, der sie daran gemahnte, dass ihr Kinderleben voll zuckersüßen Gebäcks nun bald zu Ende gekostet wäre und dass da etwas viel Größeres, Spannenderes, Erleseneres auch ihrer harrte. Etwas Geheimnisvoll-Verführerisches, und sie merkte dabei nicht, dass sie diejenige war, die im Begriff war, zu verführen.
Ein Blitz, dann ein Donner gingen in rascher Folge über Triest nieder. Ihr Blick schweifte kurz ab zum Kellner, der hastig die Tische und Stühle und Schirme vor dem Restaurant verräumte. Dann setzte der Regen ein. Er prasselte ungebremst vom Himmel herunter und spielte im Sturmwind, der draußen toste, auf den Fensterläden Xylophon. Das plötzliche Aufziehen – so schnell und nie vorherzusehen – eines Sturmes hier! Was gerade eben noch ein laues Abendwindchen war, wurde ein ausgewachsener Orkan. Triest nahm sich alle Freiheit heraus, in jeder Beziehung.
»Ich frage mich immer wieder: Wie ist das möglich?«, ereiferte sie sich weiter, als sei nichts gewesen und als hausesie in einem Kokon, geschützt vor aller Unbill des Lebens. Ihre Mimik war eine lebhafte, nicht selten schoss ihr ob der eigenen Gedanken die Röte in den Kopf, aber sie redete einfach weiter drauflos und hob die Augenbrauen in Erstaunen, lachte über das ganze Gesicht und in ihren Ausschnitt hinein oder kniff die Augen zu zwei verschwörerischen Strichen zusammen, als ob sie einen ihrer Gedankengänge unterlinieren sollten. Im Moment war ihr kommandierender Blick erfüllt von Erstaunen, dass sie den eigenen Mund kaum mehr zubrachte.
»Ist es nicht einfach unvorstellbar und absolut atemberaubend, wie viele Gedanken schon gedacht, wie viele Gefühle schon gefühlt worden sind vor unserer Zeit?« Wieder setzte sie das Glas mit dem Friauler Bier an ihren noch nie geküssten Mund und trank begierig. Sie schluckte in schneller Folge, und er befürchtete schon, sie könnte sich verschlucken und laut aufhusten. Aber nein, sie hatte das sonnige und alles einnehmende Gemüt einer Löwin, einer Königin.
»… Kelten, Römer, Markomannen, Quaden, Hunnen, Langobarden, sie alle hatten einmal ein ganzes Leben gehabt! Und das auch hier, wo wir gehen und stehen, Aquileia, Grado und Triest sind ja ganz voll von ihren Überresten! Und wer weiß, was noch in unserer Triester Luft von ihrem Erbe schwirrt, sie waren ja wohl auch vorne, hinten und rundherum voller Gefühle, sie haben geliebt, gelacht und Kinder geboren, sie haben geplündert und gemordet und wieder geliebt! Ist es nicht unvorstellbar, Elia Primo, dass es auch damals Männer und Frauen gegeben hat, die sich, so wie wir heute, zusammengesetzt haben, um zu reden, sich auszutauschen und zusammen zu sein? Ist es überhaupt vorstellbar, dass irgendein Mensch aus der Vorzeit so gelebt und empfunden haben könnte grad so wie wir jetzt hier?«
Elia Primo machte ein undefinierbares Geräusch in seinen gepflegten Schnauzbart hinein. Er fühlte sich überrumpelt, es überraschte ihn, welche
Weitere Kostenlose Bücher