Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
Gesicht zu sehen, hatte er nie erwartet. Er hatte gedacht,
sie
würde sein Gesicht nie wieder sehen.
Die Furcht saß ihm wie ein Kloß im Hals, und er schluckte hörbar. Ruhe zu bewahren, war jetzt unbedingt nötig. Anderenfalls wäre seine Mutter verloren.
»Hier unten«, bellte er, als sie um die letzte Ecke der letzten Treppe bogen und den Tunnel erreichten, aus dem Nynnia ihn entführt hatte. Etwas hatte damals nach ihm greifen wollen, und sie hatte ihn durch Zeit und Raum gezogen, um ihn zu retten. Merrick konnte nur hoffen, dass sie verstehen würde, warum er jetzt direkt in diese Falle trat.
Die Wachen warteten geduldig, während er in den Regenwasserkanal starrte, dessen Rohr vor einer gefühlten Ewigkeit unter seinen Füßen eingebrochen war. Merricks Zentrum war weit offen, und so fand er mühelos einen weiteren Blutspritzer – diesmal größer. Japhne hatte sich dort mit der rechten Hand abgestützt und in den Tunnel hinuntergelassen. Das war eine ziemliche Leistung für eine Frau, die im siebten Monat schwanger war, doch nichts motivierte mehr, als verfolgt zu werden.
Seine Mutter mochte eine vornehme Dame sein, aber sie hatte sich nie auf Gobelinstickerei beschränkt. Auch darum war es für ihren Bruder so schwierig gewesen, einen Ehemann für sie zu finden. Als Merricks Vater noch gelebt hatte und bei Sinnen gewesen war, war sie oft mit ihm zur Jagd geritten. Aber niemand wurde darauf vorbereitet, hochschwanger in den dunklen Tunneln unter Orinthal um sein Leben zu rennen.
»Entzündet eure Laternen«, instruierte Merrick die Wachen über die Schulter. Als Diakon brauchte er kein Licht, um zu sehen, aber die anderen schon. Drei der zehn Wachen hinter ihm nahmen Laternen von den Wänden des Gangs, während andere nervös auf seine nächste Anweisung warteten.
Als Merrick sie erteilte, wusste er, dass sie den Männern nicht gefallen würde. »Folgt mir.« Dann schwang er sich hinunter ins Kanalrohr. Beim letzten Mal war er nicht unten angekommen; Nynnia hatte ihn sehr präzise weggerissen.
Es herrschte pechschwarze Dunkelheit, aber da er sein Zentrum geöffnet hatte, nahm er viel mehr wahr als durch bloße menschliche Sicht. Als die Wachen hinter ihm hinabsprangen, bemerkte er das kaum.
Der Tunnel war alt, älter als selbst der Palast über ihnen, und mit großer Sorgfalt gemauert. Das Flüstern der Erbauer hing selbst nach Jahrhunderten noch an den runden Ziegelwänden. Das Wasser am Boden war nur knöcheltief, und glücklicherweise gehörte das Rohr nicht zum Abwassersystem, das weiter oben verlief.
»Dieser Kanal leitet Regenwasser vom Palast weg«, murmelte eine Wache. »Ich bete, dass in den Bergen nichts passiert, solange wir hier unten sind.«
Trotz der ernsten Situation spielte ein Lächeln um Merricks Lippen. Das Königreich über ihnen versank im Chaos, und dieser Wachposten machte sich Sorgen um das Wetter? Sollte Regen losbrechen, würde das Wasser sie alle fortspülen, bevor sie Zeit hatten, sich Sorgen zu machen.
Von seiner Mutter oder einem anderen Menschen war im Äther keine Spur, aber es gab hier unten reichlich Ratten und Kriechtiere, die ihnen Gesellschaft leisteten. Merrick blickte angestrengter in sein Zentrum und grub sich in ihre launenhaften Gehirne, in denen die Gedanken wie Wasser strömten, aber die wichtigsten galten dem Überleben.
Einige Menschen und Geister konnten ihre Spur im Äther löschen – das war zwar nicht üblich, aber möglich. Doch alles, was auf Erden wandelte oder huschte, hatte ein – wenn auch vielleicht kleines – Gedächtnis, und das war viel schwerer auszuradieren.
Der Diakon atmete schwach ein, schloss die Augen und zeichnete im Geiste die Umrisse der ersten Rune des Sehens, Sielu. Wenn er sie benutzte, um damit durch Menschenaugen zu blicken, konnte ihn das Kraft kosten, aber diesmal wandte er die Rune nicht darauf an. Stattdessen breitete er sein Netz viel weiter und tiefer aus.
In den kleinen Gehirnen der Ratten, die hier lebten, gab es eine flüchtige Erinnerung. Eine große Gestalt, die im Dunkel rutschte und schlitterte, hatte sie aufgestört. Sie hatte geschrien, und die Nager hatten verärgert gequiekt. Dann weitere Gestalten. Die Ratten mochten ihren Geruch nicht: Sie stanken nach Gefahr und dem stechenden Aroma der Anderwelt. Nicht dass Ratten wirklich gewusst hätten, was das für ein Ort war, aber ihre Instinkte waren auf Überleben gedrillt. Deshalb flohen sie vor der Anderwelt wie alle lebenden Geschöpfe – mit Ausnahme
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