Die russische Spende (Stationsarzt Dr. Felix Hoffmann) (German Edition)
Was wollte die wissen? Gesamtzahl der Betten, Anteil der Privatbetten, Personalstärke, Pflegesatz. Kein Problem, schließlich arbeite ich seit Jahren an der Klinik, und ich war sicher, daß ich die gewünschten Daten einfach nur aufschreiben mußte. Weit gefehlt. Ich hatte keine exakte Zahlen.
Ich ging hinüber zu Marlies auf die Nachbarstation. Auf dem Weg mußte ich mich auf dem Flur an mehreren Betten vorbeiquetschen. Marlies hing am Telefon, beschäftigt mit der zweitliebsten Aufgabe des Klinikarztes: Wie verkaufe ich chronisch Kranke, die unsere Hightech-Medizin überlebt haben, an ein Pflegeheim und bekomme die Betten vom Flur.
»Marlies, weißt du, wie viele Leute bei uns in der Verwaltung arbeiten?«
Sie schaute kurz auf und bedeutete mir, zu warten.
»Das kommt ganz darauf an, wie Sie Inkontinenz definieren«, sie hielt kurz die Sprechmuschel zu, »ja, kann ich dir genau sagen: niemand«, und wieder in die Sprechmuschel, »natürlich braucht er ein bißchen Hilfe, sonst könnte ich ihn ja nach Hause entlassen.«
»Marlies, ich muß es wissen. Wieviel Beschäftigte haben wir da?«
»Wenn ich richtig verstehe, akzeptieren Sie nur vollkommen gesunde Patienten ... Na gut. Ja, ich versuche es morgen wieder.« Frustriert legte sie den Hörer auf. »Mindestens doppelt so viele, wie wir brauchen, wahrscheinlich zwei pro Patient. Oder drei. Hast du noch irgendwo ein freies Bett? Ich fürchte, ich bin am Ende der Fahnenstange, ich habe meine Liste abtelefoniert.
»Hast du es schon im Sankt Margarete versucht?«
»Felix, auf welchem Planeten hast du dich im letzten Jahr herumgetrieben? Das Sankt Margarete haben sie vor Monaten geschlossen.«
Sie hatte recht, ich hatte es tatsächlich vergessen. Abbau angeblicher Überkapazitäten an Betten ist zur Zeit ein beliebtes Profilierungsspiel unter den Politikern dieser Stadt.
»Und wozu brauchst du die Zahlen für die Personalstärke in der Verwaltung? Schreibst du an einem Nachruf für Bredow?«
»So ähnlich.«
Aber Marlies achtete schon nicht mehr auf mich. Sie versuchte es jetzt mit den Pflegeheimen im Umland – ein ziemlich weiter Anmarsch für die in der Regel nicht gerade jugendlichen Angehörigen, die ihren chronisch Kranken besuchen wollen. Aber was sollte sie machen? Ihre Schwestern würden sie steinigen, wenn sie nicht bis zum Mittag die Betten von den Fluren weggezaubert hätte.
Da fiel mir die Broschüre ein. Als im vorletzten Sommer unsere Klinik in eine GmbH umgewandelt wurde, hatte man zu diesem Anlaß eine mit viel Aufwand gestaltete Druckschrift herausgegeben. Die Verwaltung hatte sich monatelang mit nichts anderem beschäftigt, und die Belegschaft mußte sich an einem schönen Tag für ein Gruppenfoto versammeln. Dafür wurde fast ein ganzer Vormittag von Operationen freigehalten und Urlaube verschoben. Mein Exemplar der Broschüre war nach einer Anstandsfrist in den Papierkorb gewandert, aber sicher würde es in der Verwaltung noch reichlich Exemplare geben. Ich machte mich mal wieder auf den Weg zu Frau Krüger.
»Dr. Hoffmann, welch angenehme Überraschung. Was kann ich für Sie tun?«
Frauen über fünfzig sind schon immer meine zuverlässigsten Fans gewesen. Was würde sein, wenn ich bald selbst fünfzig bin? Ich fragte Frau Krüger erst einmal nach der stationären Akte von Mischa, und sie überraschte mich: Professor Dohmke hatte sie tatsächlich beauftragt, danach zu forschen. Aber im Archiv habe sich auch bei intensiver Suche nichts gefunden, und mikroverfilmt war sie auch noch nicht.
»Da sind sie immer noch mit den Akten vom Vorvorjahr beschäftigt.«
Dann fragte ich nach der Klinikbroschüre. Selbstverständlich würde sie mir gerne ein Exemplar heraussuchen. Wofür ich sie denn brauche? Ich wurde der Notwendigkeit für eine halbwegs überzeugende Begründung enthoben, da Professor Dohmke das Sekretariat betrat.
»Dr. Hoffmann, das trifft sich gut. Ich wollte Sie gerade zu mir bitten.«
Er öffnete die Tür zu seinem Büro als kommissarischem Verwaltungsdirektor und bedeutete mir, ihm zu folgen.
»Wir haben uns etwas umgesehen in den Unterlagen von CareClean. Sehen Sie mal hier, das dürfte Sie interessieren.«
Er reichte mir einen von Hand ausgefüllten Vordruck. Es war die Meldung über eine Verletzung an einer gebrauchten Injektionsnadel von Ende September vorletzten Jahres. Verletzt hatte sich Mischa Tschenkow, geboren am 20. April 1971, in seiner Eigenschaft als Reinigungskraft in unserer Klinik im Auftrage der Firma
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