Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
»Er muß doch nicht…?« Sie deutete verzagt auf die festgezurrte Gestalt auf dem Schlepp.
»Wir werden unser Bestes tun, damit er überlebt. Aber noch mehr Kinder wird es in diesem Haus nicht geben.« »Ach, Gott sei Dank!« sagte sie erleichtert.
Ob die Erleichterung in ihrer Stimme der Tatsache galt, daß ihr Mann noch lebte, oder eher Tarjeis letzter Äußerung zuzuschreiben war, das wußte niemand zu sagen. Ein Schlepp war nicht gerade das beste Transportmittel für einen Mann, der mit einem Messer niedergestochen worden war, und sie hatten ihre liebe Not und Mühe, einigermaßen glatt über den steifgefrorenen Waldboden zu kommen. Der Pfad, der an der kleinen Kate führte, war voller Steine und Baumwurzeln, über die das Schlepp hinweggehoben werden mußte. Am Ende fühlte Cecilie sich, als ob sie schon hundert Jahre so gebückt gegangen wäre. Als sie schließlich vor der Treppe von Lindenallee halt machten, richtete sie den schmerzenden Rücken gerade, Wirbel für Wirbel, während sie mit zusammengebissenen Lippenen stöhnte.
Es wurde ein harter Kampf um das Leben des Mannes. Aber in Tengels Behandlungszimmer war alles viel heller, alles war zur Hand, und Tarjei hatte schon viele Male vorher dort gearbeitet und kannte sich aus. Aber Cecilie, die nicht an Krankenpflege gewöhnt war, mußte immer wieder dagegen ankämpfen, in Ohnmacht zu fallen. Herr Martinius half, den Mann festzuhalten; seine Rolle als Geistlicher hatte er zu Hause gelassen. hier ging es um das Leben dieses Mannes. Der Verletzte hatte am Anfang geschrien, aber nach und nach wurde es still. Er hatte das Bewußtsein verloren, und was hätte es da genutzt, ihn zu fragen, ob er bereit sei, vor das Angesicht Gottes zu treten?
Daß der Patient bewußtlos geworden war, erleichterte Tarjei die Behandlung. Cecilie war tief beeindruckt von den Fähigkeiten ihres Cousins. Das hier war Großvater Tengel zu seinen besten Zeiten. Tarjei war vielleicht moderner, nicht so vorsichtig und rücksichtsvoll, aber er hatte größere Kenntnisse durch sein Universitätsstudium in Tübingen. Cecilie versuchte, nicht daran zu denken, daß ihre Hände oft diejenigen des Pastors streiften. Sie war sich seiner Nähe überaus bewußt, und sie konnte nicht leugnen, daß sie davon beeinflußt wurde. Er war so ein sympathischer Mann, dem unglückseligen Alexander so ähnlich - und er war in hohem Maße Mann. Cecilie begriff, daß sie ausgehungert war nach etwas, das man wohl am sittsamsten als »Romanze« bezeichnete. Schließlich war der Patient zugenäht. Alle richteten sich auf.
»Danke für die Hilfe«, sagte Tarjei. »Ich bin überrascht, Cecilie, du warst hervorragend. Als ob du für diese Arbeit geboren wärest.« »Ach tatsächlich?« sagte sie ungläubig.
»Aber er muß beobachtet werden«, sagte Tarjei. »Und ich habe Vater versprochen, mir seine Schweine anzusehen, habe ihn schon so oft versetzt, deshalb…«
»Geh nur«, sagte Cecilie und schluckte tapfer. »Ich kann ja eine Weile hier sitzen.«
»Ich auch«, sagte der Pastor. »Der Mann kann es sicher gebrauchen, daß jemand für ihn betet.« Cecilie erbebte leicht. »Ausgezeichnet«, sagte Tarjei erleichtert. »Zwei Stunden vielleicht?« Sie nickten.
Herr Martinius sah ein bißchen erschrocken aus, als Tarjei gegangen war - als ob sein Angebot, gemeinsam mit Cecilie Krankenwache zu halten, doch ein wenig übereilt gewesen wäre. Sie konnte ihm seine Erschrockenheit absolut nachfühlen.
Es gab nicht viel, worauf man im Behandlungszimmer hätte sitzen können. Ein niedriges Sofa - wohl eher eine Bank, die mit Schafsfellen belegt war, das war alles. Darauf nahmen sie Platz, schüchtern und zögernd. Man konnte nicht die Beine baumeln lassen, dazu war die Sitzfläche zu tief, also mußten sie ganz nach hinten rutschen, damit sie die Rücken anlehnen konnten. Vermutlich war die Bank für Kranke gedacht, die eine Weile auf Lindenallee bleiben mußte. Die Stille wurde langsam quälend.
»Er ist tüchtig, der junge Tarjei«, sagte der Pastor. »O ja!«, sagte Cecilie sofort, dankbar für die Unterbrechung der Schweigefolter. »Und das in seinem Alter. Er ist ja gerade eben erwachsen.«
»Schade, daß wir ihn nicht im Kirchspiel behalten können. Es wird leer werden hier, wenn er und Ihr, Fräulein Cecilie, wieder abgereist seid.«
»Aber Euch geht es doch gut, Herr Martinius. Ach was, ich mag nicht Herr Martinius zu Euch sagen. Wie habt Ihr vorher geheißen? Martin?« »Ja.« »Darf ich Euch so
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