Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
indem sie sie mit einem hübschen Spitzentaschentuch bedeckte. Zwischendurch sah sie immer zu Kaleb hinauf, um sich zu vergewissern, daß er noch da war. Ihr Haar war ganz glatt und in zwei Zöpfen zusammengefaßt, die die ganze Zeit auf das Bett der Puppe hinunterfielen. Geduldig warf sie sie jedesmal über die Schulter zurück. Ihr Haar war rabenschwarz und die Augenbrauen dunkelbraun - ein Erbe der Paladin-Familie. Mattias kam und setzte sich an ihre Seite.
»Mama sagt, daß keiner auch nur ein böses Wort über Kolgrim gesagt hat«, sagte er nachdenklich. »Und das fand sie sehr schön. Alle sagen, daß es von der ganzen Familie um ihn am meisten schade ist. Daß er nichts dafür konnte, was er getan hat. Das glaube ich auch. Kolgrim war so lieb.«
Kaleb wußte nicht, was er darauf sagen sollte, also murmelte er irgend etwas unbestimmtes dahin.
Mattias fuhr fort: »Und Brand und Matilda haben gesagt, das letzte, was Tarjei vor seinem Tod sagte, war Cornelia, und dann hat er so glücklich gelächelt. Deshalb glaubt Matilda, daß er Cornelia wiedergesehen hat. Ich finde, das hört sich merkwürdig an. Aber auch schön. Was meinst du?«
Gabriella sah hoch zu Kaleb. Auch sie erwartete eine Antwort. Er war in Zugzwang, aber das Jenseitige war nicht gerade sein Fall.
Geschreie und Geweine irgendwo dahinten retteten ihn. Eines der Kinder von den Dienstboten war hingefallen. Jetzt kam der Kleine angehumpelt, eine Hand auf seinem aufgeschürften Knie und begleitet von einer ganzen Prozession, damit Kaleb ihn trösten sollte.
Kaleb, Mattias und Gabriella waren sofort zur Stelle. Mattias war auch so etwas wie ein Held, als Ältester der Kinder mit seinen fast elf Jahren. Und dann hatte er ja auch Muskeln.
Gemeinsam kümmerten sich die drei um das aufgeschlagene Knie, während die anderen Kinder sich um sie scharten.
Kaleb bemerkte, wie fürsorglich Gabriella sich der Wunde annahm.
»Du bist ja wirklich geschickt«, sagte er lobend. »Du solltest deine Zukunft der Pflege Verwundeter weihen.« »Ich habe immer schon versucht, anderen zu helfen«, sagte sie ernsthaft, ohne ihn wegen der respektlosen Art, mit der er eine kleine Markgräfin ansprach, zu tadeln. »Ich auch«, erwiderte Kaleb.
Der verletzte Junge griff nach dem feinen Spitzentaschentuch, mit dem die Puppe bedeckt war, und wischte sich Rotz und Tränen damit ab. Gabriella zuckte mit keiner Wimper. Der Junge konnte es brauchen. Das war die Hauptsache.
Die Familie kam nie wirklich über den Verlust Tarjeis hinweg. Der Kummer fraß sich tief in ihre Seelen. Ein Kummer, der niemals gelindert werden konnte. Und Tarjei nahm ein Geheimnis mit ins Grab. Er ebenso wie Kolgrim. Das Wissen darüber, was die Eisenkiste oben auf dem Dachboden von Grästensholm enthielt. Am Tag nach dem Begräbnis sagte Kaleb, daß er weiterziehen wollte.
»Aber wohin?« sagte Dag völlig überrascht.
Kaleb zuckte die Schultern. »Muß wohl versuchen, irgendwo etwas zu lernen.«
»Warst du nicht der, der etwas für die unglücklichen Kinder tun wollte, die zu hart arbeiten müssen?« »Ja, schon, aber das war ein Wunschtraum. Ich bin so unbedeutend, und ich habe keine Ausbildung.« Dag musterte ihn mit seinen klugen Augen. »Du hast recht, der Wille allein nützt dir nicht viel. Du brauchst eine Stellung. Du mußt von Bedeutung sein, um gehört zu werden. Leider ist es nun einmal so in unserer Gesellschaft. Und da hast du keine große Auswahl. Pastor vielleicht?« »Nein«, sagte Kaleb starrköpfig.
»Nicht, aha. Und Geld hast du auch nicht. Amtsrichter kannst du nicht werden, dazu gehört sowohl ein Vermögen als auch ein langes Studium von Kindesbeinen an. Außerdem ernennt Seine Majestät sie am liebsten selbst. Vogt solltest du besser nicht werden, meine ich, der ist nicht gut angesehen. Nein, du hast wahrhaftig keine große Wahl! Vielleicht könnte ich etwas dafür tun, daß du Schreiber beim Landeshauptmann wirst. Oder Beisitzer oder Protokollführer oder so etwas. Wenn du nur einen Titel hast, sind die Leute beeindruckt. Und rechtskundig zu sein, das ist manchmal von großem Vorteil, denn man kommt doch hin und wieder in Situationen, die schwer zu meistern sind.«
Kaleb lächelte leicht. »Wie sollte ich wohl Schreiber werden können, wo ich doch nicht einmal lesen kann?« »Ja, daran habe ich auch gerade gedacht«, lächelte Dag zurück. »Und warum gehst du nicht hier in die Lehre? Norwegen kann Männer gebrauchen, die sich der Wehrlosen annehmen. Meine Frau Liv kann
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