Die Saga von Thale 03 - Die Hüterin des Elfenfeuers
verrückt«, sagte sie eindringlich. »Sei endlich vernünftig. Lass uns nach Numark gehen und die anderen warnen, bevor es zu spät ist - bitte!«
»Nein!« Naemys Stimme klang härter und gefühlskälter, als ihr lieb war, doch sie wusste, was auf den Spiel stand, und war entschlossen, sich nicht umstimmen zu lassen. Dennoch konnte sie es Shari nicht verübeln, dass sie anders dachte. Ihre Schwester war noch sehr jung und unerfahren, und der Trotz der Jugend stand häufig der Vernunft im Weg. Insgeheim aber war Naemy froh, dass Shari so jung und weder der Gedankensprache mächtig noch in der Lage war, selbst ein Pentagramm zu zeichnen, um nach Numark zu reisen. So bestand wenigstens nicht die Gefahr, dass sie irgendwelche Dummheiten machte - Dummheiten, die sie, Naemy, dazu zwingen würden, die eigene Schwester . . . Nein!
Naemy erschauerte und schob den entsetzlichen Gedanken hastig beiseite. So weit durfte es auf keinen Fall kommen. Dreihundert Sommer hatte sie um Shari getrauert, und jetzt, da sie wieder vereint waren, würde sie nichts mehr trennen.
»O Shari«, sagte sie bekümmert und schloss ihre Schwester fest in die Arme. »Ich bin so froh, dass wir wieder zusammen sind. Du ahnst nicht, wie sehr ich all die Sommer gelitten und welche Vorwürfe ich mir gemacht habe, weil ich dich nicht in die Finstermark begleitet habe. Ich . . . ich . . . Es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, wie sehr ich dich vermisst habe. Glaube mir, ich kann deine Gefühle gut verstehen. Auch ich will nicht, dass unser Volk leidet. Doch was hier geschieht, ist längst Geschichte. Das Rad des Schicksals hat sich bereits weitergedreht - dreihundert Sommer lang! Und obwohl wir in dem großen Plan des Lebens nur zwei unbedeutende Randfiguren sind, so können unsere Taten doch weit reichende Folgen nach sich ziehen. Deshalb dürfen wir nicht auf das hören, was uns unser Herz sagt -auch wenn es wehtut.«
»Aber das ist grausam!« Shari entwand sich Naemys Griff, warf sich bäuchlings auf den Boden und vergrub das Gesicht in der Armbeuge.
»Ja, das ist es.« Naemy seufzte und setzte sich. »Es ist grausam. Doch es ist auch eine Gnade, welche die Göttin nie zuvor jemandem gewährt hat.«
»Eine Gnade«, rief Shari verächtlich aus. »Welche denn? Die Gnade, tatenlos zuzusehen, wie das eigene Volk in den Tod geht?« Sie schnaubte. »Auf eine solche Gnade kann ich nun aber wirklich verzichten.«
»Die Gnade, jenen das Leben zu retten, die sonst des Todes wären«, erklärte Naemy ruhig und fügte hinzu: »So, wie ich dich gerettet habe.«
»Das ist doch etwas anderes.«
»Nein, es ist das Gleiche. Hätte ich die Aufgabe nicht angenommen, wärst du der Klinge des Cha-Gurrlin zum Opfer gefallen und weiltest jetzt bei den Ahnen in den Ewigen Gärten des Lebens.«
Shari antwortete nicht. Reglos lag sie im Gras, das Gesicht in den Armen verborgen, während sich die feurige Sonnenscheibe langsam über die Gipfel der Valdor-Berge schob und das Grasland in goldenes Licht tauchte. Ganz in der Nähe begrüßte eine Grauammer den Tag mit verhaltenem Gesang, und im Süden zogen zwei mächtige Riesenalpe ihre Kreise am Morgenhimmel. Die nächtlichen Jäger waren spät dran, und Naemy vermutete, dass sie schon bald in ihre Höhlen zurückkehren würden. Der friedliche Anblick der beiden großen Vögel erfüllte sie jäh mit so tiefer Trauer, dass sie darüber sogar den Streit mit Shari vergaß. Auch die Rasse der außergewöhnlichen Vögel würde schon bald ein tragisches Schicksal ereilen. Naemy ballte die Fäuste und fluchte leise, während sie den majestätischen Gleitflug der Riesenalpe beobachtete, die sich langsam in südlicher Richtung entfernten.
Zahir! Der Name schlich sich wie von selbst in ihre Gedanken, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Obwohl sie sich dagegen wehrte, drängten sich ihr die traurigen Bilder auf - Bilder voller schmerzlicher Erinnerungen, die den Moment des Abschieds von dem geliebten Riesenalp zeigten. Von unzähligen schwarzen Pfeilen durchbohrt, hatte der treue Vogel sein Leben hier im Grasland ausgehaucht. Zuvor hatte er Naemy das Leben gerettet, indem er sie trotz seiner schweren Verletzungen von dem Heer der Cha-Gurrlinen fort und in Sicherheit gebracht hatte. Zahir, mein treuer Freund und Gefährte, dachte Naemy traurig, du warst mir wie ein Sohn. Warum konnte ich dir nicht helfen?
4
In den Kerkergewölben tief unter der Inneren Festung Nimrods war es dunkel und kühl. Die langen
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