Die Samuraiprinzessin - Der Spiegel der Göttin: Band 1 (German Edition)
unsichtbar zu werden für den Krieger, der vor Angst vollkommen außer sich geraten war.
Als er sich rührte und ein Holzscheit ins Feuer legte, zuckte ich zusammen, denn ich fürchtete, dass er wieder von mir Notiz genommen haben könnte.
Das hatte er in der Tat, doch anders, als ich gedacht hatte.
»In der vergangenen Nacht hast du mir erzählt, wie du ins Kloster gekommen bist«, sagte er ruhig, beinahe so, als spräche er mit dem Feuer. »Jetzt möchte ich dir eine Geschichte aus meinem Leben erzählen.«
»Wenn Ihr glaubt, dass ich würdig genug bin, sie zu erfahren«, entgegnete ich zurückhaltend.
Kanehira lachte auf. »Ach, Mädchen! Habe ich in dieser elenden Hütte vielleicht eine andere Zerstreuung als Geschichten? Also hör mir zu, nicht häufig wird es jemandem zuteil, dass ich ihn mit Anekdoten aus meiner Kindheit langweile.«
Ich wollte schon einwenden, dass er mich mit solchen Geschichten wohl kaum langweilen könne, aber er gebot mir mit einer unwirschen Handbewegung zu schweigen.
»Ich war noch ein kleiner Knabe, viel zu jung, um zu begreifen, als es in unserer Familie zu einem seltsamen Vorfall kam. Du musst wissen, mein Vater und meine Mutter waren da schon eine Weile miteinander verheiratet, und es schien, als würde es zwischen ihnen kein Geheimnis geben. Was sie einander nicht sagten, teilten sie sich durch Gedanken mit, was sie nicht dachten, ließen sie einander spüren.
Wissen musst du auch, dass zu der Zeit Fürst Yoshinaka bereits bei uns war. Er war mein Milchbruder, das heißt, meine Mutter nährte nicht nur mich, sondern auch ihn, der zu uns gekommen war, nachdem die Taira seinen Vater getötet hatten. Gemeinsam streiften wir durch unseren Palast, neckten meine leiblichen Schwestern und trieben uns auf der Pferdeweide unseres Besitzes herum. Yoshinaka übertraf jedes meiner Geschwister, mich eingeschlossen, im Herbeirufen der grauen Tiere, und in späteren Jahren wurde er der beste Reiter von uns allen. Aber dieser Tag lag damals noch in weiter Ferne, wir waren einfach Kinder, die nichts von den Sorgen Erwachsener wussten.
Aber verzeih, dass ich abschweife.
Auf jeden Fall kehrten Yoshinaka und ich eines Tages von einem unserer Streifzüge in den Palast zurück, wo wir sogleich von einer der Dienerinnen abgefangen wurden. Im Flüsterton teilte sie uns mit, dass unsere Mutter plötzlich erkrankt sei und dass wir uns von ihr fernhalten sollten.
Ratlos gingen wir in unsere Kammer, setzten uns sorgenvoll auf unsere Reismatten und schwiegen lange. Angst tobte in mir. Wenn meine Mutter nun starb … Nie zuvor hatte ich diese willensstarke und schöne Frau krank gesehen, und nun schien es so schlimm um sie zu stehen, dass nicht einmal ihre eigenen Kinder zu ihr durften.
Nach einer sorgenvollen Nacht schlich ich mich mit meinem Ziehbruder aus der Kammer. Unser Ziel waren die Dienstbotenkammern. Schon vor einiger Zeit hatten wir herausbekommen, dass es dort einen Ort gab, an dem wir uns unsichtbar machen konnten. Dort verkrochen wir uns und lauschten. Wir hatten nämlich herausgefunden, dass die Dienerinnen allen möglichen Klatsch erzählten, manchmal auch ziemlich unanständige Dinge, deren Bedeutung uns damals noch nicht vollends aufging. An jenem Morgen gab es jedoch keine zotigen Geschichten, die Dienerinnen unterhielten sich nur im Flüsterton. Ein böser Geist sei in der Kammer der Herrin erschienen und hätte sie krank gemacht, wisperten die Jüngeren. Die Älteren meinten, dass der Tod selbst in die Kammer meiner Mutter gekommen sei. Und die alte Natsuo redete davon, dass meine Mutter finstere Visionen gehabt hätte, Visionen über das Kind, das sie in ihrem Leib trug. Dass meine Mutter in anderen Umständen war, wussten wir schon, seit sich ihr Zustand nicht mehr unter den Gewändern verstecken ließ. Aber was sollten das für Visionen sein? Wir erfuhren nie wirklich, was sie gesehen hatte, doch am Tag, als das Kind geboren wurde, tauchte ein dunkler Reiter auf. Yoshinaka und ich, die wir neugierig durch das Fenster spähten, sahen ihn auf einem schwarzen Ross in den Hof sprengen, völlig unbehelligt von den Wachen. Auffällig war, dass die Dienstboten sich verkrochen hatten. Im gesamten Haus war es still bis auf die Schreie meiner Mutter, mit denen sie das Kind in die Welt brachte. Und dann … Am nächsten Morgen wollten wir wie unsere anderen Schwestern und Brüder zu ihr, um das Kind anzusehen. Doch es gab kein Kind. Und es gab auch keine Erklärungen. Die Dienerinnen
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