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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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berührte sie an der Schulter. Sie hob den Kopf und sah mich an. Ihre Hände zitterten, die Lippen waren geschwollen und zerbissen, und die Augen hatten einen wahnsinnigen Glanz.
    »Dieter ist zu sich gekommen«, sagte Sulfia.
    Es stellte sich heraus, dass Dieter Rossmann blaue Augen hatte und ein bisschen Russisch konnte. Er erinnerte sich nicht an seinen Unfall, wusste aber noch, wer er war und welches seltsame Anliegen ihn in unsere kalte Stadt verschlagen hatte.
    »Du musst viel mit ihm sprechen«, beschwor ich Sulfia, »du musst sein Ein und Alles werden, solange er noch im Bett liegt und von dir gepflegt wird.«
    »Ach, Mutter«, sagte Sulfia, aber endlich hörte sie auf mich. Vor der Arbeit schminkte sie sich die Augen und die Lippen und ließ sich von mir mit dem Lockenstab Wellen in ihr schwarzes Haar drehen. So sah es ein bisschen fülliger aus. Ich erinnerte mich im Eilverfahren an die deutschen Vokabeln, die ich noch in der Schule gelernt hatte, und brachte sie Sulfia bei. »Guten Tag«, »Wie geht es Ihnen«, »Hände hoch«, »Mein Name ist Sulfia, und Ihrer?« und »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«.
    Leider wusste ich nicht, wie man »Sind Sie verheiratet oder verlobt?« sagte, aber Sulfia meinte, alles Wesentliche könnte Dieter sowieso auf Russisch sagen.
    »Das ist egal«, sagte ich. »Wenn du dich bemühst, seine Sprache zu sprechen, hast du sofort einen Schlüssel zu seinem Herzen.«
    »Ach, Mutter«, sagte Sulfia, aber sie war nicht so widerspenstig wie sonst.
    »Deutschland ist ein gutes Land«, sagte ich ihr, »ich habe gehört, dort werden die Straßen mit Shampoo gewaschen.«
    Ich versuchte zu verstehen, was Dieter in unserer Stadt wollte. Er war der erste Ausländer, von dem ich je gehört hatte. Sulfia sagte, er sei eine Art Journalist und schreibe eine Art Buch.
    »Ein Buch worüber?« fragte ich. Von ausländischen Journalisten hatte ich schon was gehört, aber wenig Gutes.Sie verschafften sich illegal Zutritt zu unseren Waisenhäusern oder Gefängnissen und schrieben über Währungsprostitution und HIV-Infektionen.
    Dieter schrieb über Küchen, sagte Sulfia.
    »Worüber?« fragte ich
    »Über die Nationalküchen«, sagte Sulfia. Er hatte bereits den Kaukasus bereist und wollte sich auf den Weg in die Ural-Dörfer machen, um dort alte Rezepte unseres Vielvölkerstaates aufzuspüren.
    »Rezepte?« fragte ich ratlos. Wir hatten hier längst alle die gleichen Rezepte: Nudeln mit Butter, Würstchen mit Pellkartoffeln, Haferbrei mit altem Kompott, Tee mit steinharten Lebkuchen. Das waren die einzigen Lebensmittel, die man ohne Beziehungen noch auftreiben konnte.
    »Was soll ein Mann mit Rezepten?« fragte ich Sulfia. »Ist er vom anderen Ufer?«
    »Er schreibt ein Buch«, wiederholte sie.
    »Hast du ihm schon gesagt, dass du Tatarin bist?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Oh, was bist du dumm, Sulfia. Sag ihm, er soll uns besuchen, dann erzähle ich ihm alles über die tatarische Küche. Sag ihm – alte tatarische Geheimrezepte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden.«
    »Und dann?«
    »Sulfia«, sagte ich. »Mach es einfach.«

[Menü]
    Ein ausländischer Idiot
    Es hat einige Monate gedauert, bis Dieter körperlich in der Lage war, mein freundliches Angebot anzunehmen.
    In dieser Zeit hatte ich das Gefühl, ihn bereits gut zu kennen. Sulfia schien in einem guten Kontakt zu ihm zu stehen. Manchmal wunderte ich mich, wieso ihre Kolleginnen ihr solche Kranken nicht streitig machten. Dann begriff ich – Sulfias Männer hatten Macken. Sergej sah man auf den ersten Blick den Weiberhelden an, Michail den Juden. Und über Dieter wusste man zu wenig. Er war ein Ausländer, aber ob er lukrativ war, war auf den ersten Blick nicht klar. Er hatte offenbar keine Beziehungen und war mittellos – sonst hätte er nicht mehrere Monate in einem Zehn-Bett-Zimmer ohne jeden Besuch auf Sulfias Station verbringen müssen. Es passte zu Sulfia, dass ihr Ausländer nicht die Luxusvariante war. Besser als nichts war Dieter Rossmann aber allemal.
    Er hatte blaue Augen, eine Stupsnase und einen kleinen Mund. Sein Gesicht erinnerte mich an ein Schwein. Er hatte eine Lederjacke an, darunter einen grob gestrickten Pullover, den er wahrscheinlich irgendeinem alten Mütterchen auf dem Basar abgekauft hatte.
    Er sah blass und abgemagert aus, hatte aber trotzdem einen dicken Bauch.
    Als ich ihm Hausschuhe geben wollte, hob er einen Fuß an und zeigte mir seine Wollsocken, passend zum Pullover. Wäre er

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