Die Schatten der Vergangenheit
meiner Nase hin und her schwenkte. Ich öffnete ein Auge, und mein Dad, dem das grau melierte Haar in die Stirn fiel, grinste. »Ich hab so lange gewartet, wie ich konnte. Laura hat gesagt, ich solle dich schlafen lassen.«
Graduation Day. Ich setzte mich auf und nahm den Becher. Unsere Finger berührten sich, und ich spürte seinen unregelmäßigen Herzschlag. Meine Versuche, ihn zu heilen, hatte ich in der Zwischenzeit aufgegeben, denn sie erwiesen sich als zwecklos. Mein Vater wusste es nicht, aber in seinen Adern floss Beschützerblut, das seine inneren Körperfunktionen beeinflusste. Meines Wissens waren seine Eltern ziemlich jung gestorben. Wie meine Mutter besaß mein Vater keinerlei spezielle Fähigkeiten. Oft wurden Generationen übersprungen, und sowohl er als auch meine Mom gehörten zur Generation ohne Macht. Was war ich doch für ein Glückspilz.
Ich rutschte zur Seite, um Ben Platz zu machen, und er setzte sich neben mich, lehnte sich an das Kopfteil des Bettes und schlug die Beine übereinander, die in einer verwaschenen alten Jeans steckten. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und nippte am Kaffee.
»Morgen, Dad.«
Wie immer, wenn ich ihn »Dad« nannte, schmolz er dahin. Die Erfahrung war für uns beide noch sehr neu. Trotz der vielen Jahre, die wir getrennt verbracht hatten, waren wir uns erstaunlich ähnlich bis hin zu einer bestimmten Mimik. Ich war ebenfalls hochgewachsen, und auch den braunen Teint hatte ich von ihm. Das, was ich von meiner Mutter geerbt hatte – die schmutzig blonde Haarfarbe, meine Sommersprossen und die zarte Knochenstruktur –, erinnerte alle, dass ich erst später zu einem Familienmitglied geworden war.
»Na du, wie geht’s dir heute Morgen?«
Seitdem er im März nach New York gekommen war, um mich im Krankenhaus zu besuchen, wo ich nach meiner letzten Konfrontation mit Dean mit dem Tod gerungen hatte, ängstigte sich Ben ständig um mich. Es war, als müsste erdie siebzehn Jahre, in denen er sich nicht wirklich um mich gekümmert hatte, in wenigen Monaten wiedergutmachen. Mich störte es nicht. Seine Besorgnis war der reinste Balsam für meine Seele, nachdem er mich meinem Schicksal überlassen und meine Mutter mich verraten hatte. Ben hatte nicht gewusst, welcher Situation er mich ausgesetzt hatte, aber wenn bei mir das Gefühl wieder hochkam, im Stich gelassen worden zu sein, machte das nicht den geringsten Unterschied.
Nun aber, wo ich den Geruch von Holzspänen einatmete, der Ben stets umgab, weil er eine Schiffsbaufirma betrieb, musterte ich seine bloßen Füße und genoss es, dass er neben mir saß und sich um mich sorgte. »Frag mich noch mal, wenn ich aufgewacht bin«, brummelte ich.
Ein langer Augenblick der kameradschaftlichen Stille folgte, und dann erklang von unten Lauras Stimme: »Ben O’Malley, wehe, du bist da oben und weckst das Mädel auf!«
Er warf mir einen verschmitzten Blick zu, den ich erwiderte und dabei in seine marineblauen Augen sah, die er mir ebenfalls vererbt hatte. Dann brachen wir beide in Gelächter aus.
»Tja, jetzt sitzt du in der Patsche!«
»Nur, wenn du mich verpetzt«, grinste er. »Bereit für den heutigen Tag?«
»Du meinst, für das Barett und den Talar? Nicht gerade eines meiner Lieblingsoutfits, aber mit Lucys Hilfe werde ich das Kind schon schaukeln.«
»Alter Quatschkopf! Eigentlich meine ich die komplette Geschichte, Barett und Talar, ohne dass deine Mom dabei ist.«
Als ich nicht gleich antwortete, stupste er mich mit dem Fuß. Ich suchte nach den richtigen Worten. Meine Gefühle für meine Mutter waren eine verrückte Mischung aus Liebe, Hass und Trauer. Manchmal fehlten mir die Worte, und so zuckte ich nur mit den Achseln.
»Es reicht, dass ihr dabei seid.«
Ben bohrte nicht weiter nach. »Alles okay mit Asher und Lucy? Die letzten Tage über wirkte alles ein wenig angespannt zwischen euch.«
Wieder zuckte ich die Achseln. »Highschool-Kram. Nichts, was nicht in wenigen Tagen aus der Welt geschafft wäre.«
Es tat weh, ihm nicht die Wahrheit sagen zu können. Dass Lucy immer noch wütend auf mich war, weil ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Dass meine mentalen Mauern nach oben gefahren waren, was die Beziehung zu Asher belastete. Ich hatte ihm in den letzten Tagen ständig den Zugang zu meinen Gedanken verwehrt, damit er nichts von der E-Mail erfuhr, die ich meinem Großvater geschrieben hatte. Die dauernde Anspannung hatte bei uns beiden Spuren hinterlassen.
»Ich liebe dich, Kiddo. Und
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