Die Schattenkämpfer 3 - Der Fluch der Assassinen
vertrauten Umgebung, die ihm von klein auf ein Zuhause war, verflüchtigten sich endlich die Gräuelbilder des Krieges. Und zudem lag nur wenige Schritte von seiner Kammer entfernt das Schlafgemach seiner Mutter. Ein verbotener Ort, den er nie betrat, jedoch als unverzichtbaren Teil seiner Seele empfand. Auch wenn seine Mutter längst verstorben war, hatte er immer noch das Gefühl, dass sie dort wohnte. Und ebenso gegenwärtig war immer noch der Schmerz, weil sie ihn ihr Leben lang zurückgewiesen hatte.
In diese Gedanken vertieft, bemerkte er plötzlich eine Gestalt am Ende des Flures. Seinen Schritt verlangsamend, ging er auf sie zu. Es handelte sich um einen Mann, der extravagant gekleidet war, mit eng anliegenden grünen Beinkleidern und einem roten Wams mit weiten Ärmeln. Forschen Schritts kam er näher, und kaum hatte er Learco erblickt, schwenkte er weit ausholend seinen Arm und bedeutete ihm, dass er ihn sprechen müsse. Ruckartig blieb der Prinz stehen: Ihm war, als sehe er seine eigene Vergangenheit auf sich zukommen. Mit einem breiten Lächeln kam der Mann näher. Sein Haar war wie sein eigenes von einem fast weißen Blond, nur trug er es länger und zu einem fließenden Pferdeschwanz gerafft, während sein Gesicht von einem langen, gepflegten Bart eingerahmt wurde. Er hatte sich gar nicht so sehr verändert, seit Learco ihn zum letzten Mal gesehen hatte - ein paar Falten mehr, und der Rücken gebeugter, doch er war es, unverkennbar: Neor.
»Onkel ...«
Neor umarmte ihn stürmisch. »Mein Gott, Learco, du bist ein Mann geworden ...« Er schien bewegt, löste sich von ihm und blickte ihm in die Augen. »Wie lange ist das her ... neun, zehn Jahre?« »Acht«, antwortete Learco, nicht weniger bewegt. »Acht.«
Neor wandte den Blick ab. »Komm, wir haben uns viel zu erzählen.« Sie begaben sich in den Garten im Innenhof des Schlosses, wo damals Sulana und Dohor ihre Hochzeit gefeiert hatten. Als Learco noch jünger war, hatte er dort häufig ein wenig Ruhe gesucht.
Sein Onkel wählte jetzt eine etwas abseits gelegene Ecke, wo niemand sie stören konnte. Dort setzten sie sich auf den Boden, so wie sie es immer getan hatten, als Neor noch der Lehrer und Learco sein Lieblingsschüler gewesen war. Neor war einer von Dohors zahlreichen Vettern und bekannt für sein exzentrisches Auftreten, aber auch für seine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert. Aus diesem Grund hatte der König damals auch beschlossen, ihn trotz seines rebellischen Charakters zu sich an den Hof zu holen. Eine Weile war es gut gegangen, ja, Neor hatte dem König sogar in mancherlei Hinsicht sehr nützlich sein können. Irgendwann jedoch zeigte sich, dass er die politischen Ziele seines Vetters immer weniger teilte. Nun nahm er es sich heraus, bestimmte Aufgaben, die man ihm übertragen hatte, rundweg abzulehnen und die Politik des Königs zu kritisieren, zunächst unter vier Augen, dann sogar in einer Vollversammlung des Rats. So kam es, dass sich Dohor von seinem Vasallen abwandte und dazu überging, ihn aus den wichtigsten Entscheidungen herauszuhalten, während er gleichzeitig den gefügigeren und grausameren Forra enger an sich band.
Zu dieser Zeit war Learco noch ein Kind und zu klein, um die Vorgänge zu begreifen. Erst später erfuhr er durch Erzählungen, die bis zu ihm an den Hof durchsickerten, dass Neor seinen Widerstand gegen den König bis über die Palastmauern hinaus getragen hatte. Neors Kritik richtete sich vor allem gegen Dohors gefährliche und unrechtmäßige Großmachtträume. Zunächst hatte er es im Guten versucht und die Ablehnung dieser Pläne nur innerhalb des Rats vorgetragen, war jedoch auf keinerlei Widerhall gestoßen. Schließlich begann er dann, überall im Land Verbündete zu suchen und die Untertanen gegen den König aufzuwiegeln.
Zum Höhepunkt der Auseinandersetzung kam es, als Dohor beschloss, Neor die Ausbildung Learcos anzuvertrauen. Offenbar war er der Annahme, hierbei könne der rebellische Vetter wenig Schaden anrichten und lasse sich durch diese Aufgabe von gefährlichen Freundschaften abhalten.
Es wurden nur wenige Monate, doch Learco behielt sie als die besten seines Lebens in Erinnerung. Neor war ein vorbildlicher Lehrer, der es verstand, die Strenge der Ausbildung durch ein passendes Maß von Zuneigung abzumildern. An diesem gefühlskalten Hof, mit einer abwesenden Mutter und einem allzu fordernden Vater, war Neor für Learco der einzige Rettungsanker: Er verlangte nichts
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