Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Shooters-Gläser und eine Flasche mit Wodka. Wortlos stellte er eines der Gläser vor Cale und eines vor sich hin und füllte sie. Trotz seiner Kopfschmerzen leerte Cale seines gemeinsam mit seinem Freund und trank auch stumm ein weiteres Glas. Der Alkohol brannte, doch die Wirkung würde bald verfliegen.
»War es ...«, fragte Desmond, doch Cale schüttelte den Kopf, bevor er den Satz beenden konnte. Engel. Das Wort klang noch immer seltsam in seinen Ohren, selbst wenn er es nicht aussprach.
»Ich habe sie gefunden, als sie im Sterben lag. Ihr Herz fehlte, aber sie sagte mir, es sei kein Engel gewesen.«
Desmond runzelte die Stirn. »Ein paar Stunden zuvor wird ein Dämon von einem Engel getötet, und kurz darauf findest du eine der bekanntesten Dämoninnen in Edinburgh, der ebenfalls das Herz herausgerissen wurde, und sie sagt dir, dass es kein Engel war?« Der Vampir schnaubte nur abfällig und schenkte ihnen ein drittes Mal nach. Diesmal verzog Cale kaum eine Miene, als er trank. »Was sagt uns das also, Mr. Klugscheißer?«
»Ezekiel wurde nicht von einem Engel umgebracht?« Cale schüttelte den Kopf. »Das klappt so nicht. Ich habe Ezekiels Blut befragt. Und er sagte, es wäre eindeutig ein Engel gewesen. Ganz abgesehen vom Engelsflügel am Tatort.«
Desmond sah auf. »Wie bitte?«
»Ein Engelsflügel«, wiederholte Cale. »Ich habe jemanden mit Schwingen vor dem Fenster des Hotelzimmers gesehen. Er ist mir leider entkommen.«
Der Vampir dachte diesmal wirklich nach und schüttelte dann den Kopf. »Das ist ja perfekt. Ein Dämon kommt zurück an den Tatort, um mehr über den Mörder seines Artgenossen herauszufinden, und der Täter wartet so lange, bis er fertig ist, und macht dann gut sichtbar einen kleinen Sturzflug am Fenster vorbei. Das passt großartig, Cale.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«, knurrte Cale und nahm die Wodkaflasche an sich, um ihnen beiden ein viertes Glas einzuschenken.
»Zurzeit nicht, nein. Aber das passt alles zu gut zusammen. Hast du vielleicht noch andere Hinweise gefunden, welche, die du bisher übersehen hast?«
Etwas in Cale sträubte sich, Desmond von Zoe zu erzählen. Er wusste selbst noch nicht, wie sie in das alles involviert war. Entweder hatte sie mit dem Täter zu tun oder aber sie war einfach nur zufällig in diese Sache hineingestolpert.
Wenn Cale ehrlich zu sich selbst war, war es sehr viel wahrscheinlicher, dass sie mit dem Täter gemeinsame Sache machte, vielleicht sogar selbst einer der Täter war, aber gleichzeitig war er sich dessen nicht so sicher. Etwas an dem Erlebnis der letzten Nacht hatte ihn verunsichert. Wenn er anfangs noch geglaubt hatte, dass sie einer der Täter war, so hatte sich das abrupt gewandelt, als er ihr Traum-Ich gesehen hatte. Die Art von Schutzlosigkeit, diese tiefe Wunde konnte man nicht vorspielen, erst recht nicht in den eigenen Träumen. Er musste mehr über sie erfahren und das ohne Desmond. Also schwieg er und schüttelte nur den Kopf.
Der Vampir schien mit einer solchen Antwort gerechnet zu haben, denn er seufzte leise und schob sein noch volles Glas zur Seite. »Und was machen wir jetzt, Sherlock?«
»Wir ...«
› Er ist hier. ‹
Caes’ Stimme kam derart überraschend, dass Cale einen Teil seines Wodkas verschüttete. »Was?«, murmelte er. Desmond musterte ihn, aber er kannte diese Art der Konversation. Also verhielt er sich still.
› Er ist hier ‹, wiederholte die raue Stimme im Cales Kopf nur, und im nächsten Augenblick klopfte es laut und vernehmlich an der Tür. Desmond musterte Cale fragend und stand auf. Cale jedoch sprang auf und hielt seinen Freund zurück. »Warte. Das ist ...«
› Geh hin. Los! ‹
Der Befehl war drängend. Cale war in zwei Schritten an der Tür und öffnete. Im Treppenhaus stand eine dürre Gestalt in einen Mantel gekleidet, der vor 60 Jahren modern gewesen sein mochte. Ein dicker Wollschal verhüllte den unteren Teil des Gesichts, der obere wurde von einem breitkrempigen Herrenhut verdeckt.
Cale spürte Desmond hinter sich, der neugierig auf den Besucher starrte. Als der aber den Hut höher schob, stieß der Vampir einen keuchenden Atemzug aus. Er drehte sich um, stieß das Fenster über dem Küchentisch auf und floh. Cale sah ihm sprachlos nach und dann wieder auf den fremden Besucher. Die Augen unter dem breitkrempigen Hut waren matt. Es brauchte einen Moment, bis Cale Pest erkannte. Der apokalyptische Reiter schien um Jahre gealtert. Unter dem Schal kam dünne,
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