Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
schien. Zoe fror durch den Wind, der um sie herum wehte, und gab es auf, zu schreien oder Dumas zu bitten, sie herunterzulassen. Es brachte ja doch nichts.
Als sie diesmal den Kopf hob, erblickte sie tatsächlich etwas Vertrautes in der Ferne. Die schwarz verrußte Spitze des Scots Monument tauchte am Himmel auf, und die Perspektive stimmte mit dem, was sie gesehen hatte, überein. »Hier«, rief sie und deutete in die Richtung des Monuments.
Zum ersten Mal seit Beginn dieses Fluges beachtete Dumas sie. Die Augen leicht zusammengekniffen, sah er auf sie herunter. »Wo genau?«
Sie überwand sich, wieder nach unten zu sehen. Die Wohnung musste sich in einem der Häuser unter ihnen befinden, möglichst weit oben. Fahrig machte sie eine Geste zu dem Dach direkt unter ihnen; Dumas schlug mit seinen großen Flügeln und wurde langsamer. Ihr drehte sich der Magen um, als sie tiefer sanken, und sie hoffte, der Engel wusste, was er da tat. Mit einem leisen Pochen landeten sie auf dem Dach, und Zoe rutschte mehr als nur dankbar aus Dumas’ Armen. Sie spürte ihre Beine nur noch wie aus weiter Ferne oder als ob sie nicht zu ihr gehören würden, und aus Angst, einfach hinzufallen, kniete sie sich direkt auf den Boden des Dachs.
»Wir haben keine Zeit für eine Pause«, herrschte Dumas sie an, aber Zoe funkelte ihn wütend an. »Zehn Sekunden werden Sie sich jetzt einfach nehmen müssen, wenn Sie nicht möchten, dass ich einfach vor Ihrem Mörder zusammenklappe.«
Dumas sah aus, als wollte er etwas erwidern, ließ es aber und wandte sich ab. Unruhig wanderte er am Rand des Dachs hin und her. Zoe hockte sich in eine Ecke und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Es dauerte etwas, aber bald hörten ihre Knie auf zu zittern, und sie konnte sich besser auf ihre Umgebung konzentrieren. Von ihrer Perspektive aus sah sie das Monument fast genauso wie in ihrer Vision. Aber irgendetwas war anders. Etwas fehlte. Auch wenn ihr Gefühl ihr sagte, dass sie hier richtig waren. Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte es aber auch wirklich mit einer Verbindung zwischen ihr und Cale zu tun, von der Dumas gesprochen hatte. »Es muss die Wohnung direkt unter uns sein«, sagte sie, und Dumas fuhr herum. »Sind Sie sich sicher?«
Zoe nickte. Mit grimmigem Gesichtsausdruck fasste Dumas Zoe um die Taille und hob sie abermals wieder hoch. »Oh nein, Sie wollen doch nicht wieder fliegen, oder?«
»Nein.« Mit diesem Wort sank der Engel einfach durch das Dach, als wäre es Wasser. Zoe starrte mit großen Augen den Boden des Dachs an, in dem erst ihre Füße, ihre Beine und schließlich ihr Bauch verschwanden. Sie spürte ein wenig kühlen Widerstand, aber weder massiven Stein noch Ziegel. Als ihr Kopf hindurchsinken sollte, schloss sie hastig die Augen, bis es vorbei war. Als sie sie wieder aufschlug, befand sie sich in einem schlicht eingerichteten Wohnzimmer. Die Wände waren geschmackvoll mit beigefarbener Farbe bedeckt, und einige Kunstdrucke dienten als Farbkleckse. Nur die Dekoration wirkte ein wenig deplatziert. Auf den Regalen und den Stehtischchen sah sie kostbare alte Vasen direkt neben Pop-Art-Exponaten. Es gab keinerlei roten Faden oder erkennbare Ordnung in der Sammlung, aber alles war ordentlich aufgestellt.
Zoe wandte sich an Dumas, der sich umsah und dann ins Nebenzimmer ging. Er war angespannt, sie konnte die Spannung seiner Muskeln deutlich unter seiner Haut erkennen, aber war da nicht noch etwas anderes gewesen? Hatte da nicht etwas in seinem Blick aufgeblitzt, als sie ihm sagte, wo genau die Wohnung lag?
Sie folgte ihm langsamer und musste sich immer wieder ermahnen, sich nicht schuldig zu fühlen, weil sie einfach bei jemandem eingebrochen war. Dumas zog es direkt ins Schlafzimmer, aber außer einem überbreiten Bett war alles leer. Zoe legte den Kopf zur Seite. Das war eindeutig das Bett, das sie gesehen hatte; auch der Blick aus dem Fenster stimmte. Aber hier war kein Cale, kein Blut.
»Sind Sie wirklich sicher, dass er hier ist?!«
Zoe nickte und wurde mit einem Mal an die Wand gedrückt, Dumas nah vor ihrem Gesicht.
»Fragen Sie sich selbst, ob Sie mir nicht doch etwas verheimlichen, was Sie gesehen haben. Oder manipulieren Sie Ihre Vision, weil Sie ihn doch mögen?« Er atmete gehetzt. »Sie dürfen sich nicht den Schmeicheleien eines Inkubus hingeben, Zoe. Sie lügen, sie feilschen und tun alles, um ihre elende Haut zu retten. Glauben Sie ihm nicht. Lassen Sie sich nicht von ihm einwickeln!«
Zoe
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