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Die Schmetterlingsinsel

Die Schmetterlingsinsel

Titel: Die Schmetterlingsinsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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Wie wurden sie geführt? Doch sicher nicht so wie in Theaterstücken über ­Richard III.!
    »Es gibt eine interessante Geschichte zu dieser Kampfkunst«, setzte Vikrama hinzu, während er mit auf dem Rücken verschränkten Händen neben ihr ging. Seine Bewegungen waren dabei so geschmeidig wie die einer Raubkatze. Oder bildete sich Grace das nur ein, jetzt, wo sie von der Kampfkunst wusste?
    »Lassen Sie hören!«
    »Früher waren die indischen Herrscher so weise, dass sie bei einer Schlacht unnötiges Blutvergießen vermeiden wollten. So schickten beide Parteien jeweils einen Kalarippayat-Kämpfer aus ihrer Leibgarde nach vorn, um ein Duell auf Leben und Tod auszufechten. Der Fürst des Kämpfers, der starb, musste sich geschlagen geben.«
    »Das klingt sehr weise«, gab Grace beeindruckt zurück. Bisher hatte sie nur von den indischen Sikh-Kriegern gehört, die für ihren Wagemut und ihre Grausamkeit bekannt waren.
    »Das ist es auch. Leider ist diese Tradition mit der Zeit ein wenig in Vergessenheit geraten, weil der Krieg zwischen indischen Fürsten irgendwann einmal weniger wurde und sich die Heere mit Invasoren messen mussten, die mit dem Brauch nicht vertraut waren. Aber die Kalarippayat-Kämpfer bildeten dennoch stets die Elitegarde eines Maharadschas.«
    Von der Erzählung vollkommen eingenommen, schwieg Grace.
    »Wir kämpfen im südlichen Stil des Kalarippayat, obwohl wir diese Kunst nicht mehr wie angestammt am helllichten Tag ausführen können.«
    Vor lauter Begeisterung bemerkte Grace nicht, dass Vikrama verstummte, als hätte er schon zu viel gesagt.
    »Und wie sieht so ein Kampf aus?« Ein Leuchten zog durch ihre Augen. »Könnte ich vielleicht einmal dabei zusehen?«
    Vikrama runzelte die Stirn. »Das wird nicht so einfach, fürchte ich. Bei unseren Kampfübungen sind ausschließlich Männer zugegen. Frauen halten sich zurück, es wird ihnen nicht verboten zuzuschauen, aber dennoch sieht man sie nicht gern, weil sie eine Ablenkung darstellen oder die Krieger zu Leichtsinn verleiten, weil sie ihnen gefallen wollen.«
    »Genauso wie bei uns«, schmunzelte Grace. »Junge Engländer, die ihren Mädchen gefallen wollen, stellen manchmal auch irgendwelchen Unfug an.«
    »Vielleicht findet sich eine Möglichkeit, dass Sie heimlich zusehen können«, lenkte Vikrama ein. »Allerdings sollten Sie sich bis dahin wesentlich besser im Gelände auskennen. Ich werde Sie vielleicht hinführen, aber nicht so schnell wieder zurückbringen können.«
    Graces Wangen glühten, als hätte sie zu lange in ein Herdfeuer geschaut. War das alles aufregend! So etwas war im ­guten alten England nicht möglich.
    Doch nun bemerkte sie, dass Vikramas Miene auf einmal ernst geworden war.
    »Was ist?«, fragte sie besorgt, worauf der Mann vor ihr stehen blieb und sanft seine Hände auf ihre Arme legte.
    »Es ist sehr wichtig, dass Sie Ihrem Vater nichts davon verraten. Bitte, behalten Sie das, was ich Ihnen erzählt habe, für sich.«
    Grace war überrascht. »Aber …«
    »Ich bin mir noch nicht sicher, was für ein Mann Ihr Vater ist. Während der Eroberung Indiens haben Kalarippayat-Kämpfer den Engländern schwer zugesetzt. Ich weiß von einigen Plantagen, auf denen Kämpfer hart bestraft wurden, als man entdeckte, dass sie übten. Unsere Art zu kämpfen ist verboten.«
    Nach Luft schnappend, presste Grace hervor: »Aber Sie wollen doch nicht …«
    »Nein, wir wollen die Engländer nicht damit angreifen. Wir sind zahlenmäßig gar nicht stark genug, und Männern wie mir geht es einzig um die Erhaltung dieser Tradition. Deshalb schleiche ich nachts vom Hof und treffe mich im Schutz der Wälder mit den anderen. Und deshalb wollte ich Ihnen nicht sagen, was ich tue.«
    Der Vergleich mit dem Ritter war also nicht ganz falsch gewesen. Grace brauchte eine Weile, um das Gehörte zu verdauen. Der freundliche junge Mann praktizierte unter den Augen der Kolonialisten eine verbotene Kampfkunst, für die er hart bestraft werden konnte. Und er zog sie, die Tochter seines Herrn, ins Vertrauen.
    »Warum haben Sie mir das alles erzählt?«, presste sie atemlos hervor. »Ich könnte doch zu meinem Vater gehen und ihm alles berichten!«
    »Das könnten Sie.« Wieder lächelte Vikrama. »Aber das werden Sie nicht tun, ich weiß es. Ich weiß es seit dem Augenblick, als Sie das kleine Mädchen, das Ihrer Köchin einen Kuchen gestohlen hat, nicht verraten haben. Sie wissen es vielleicht nicht, aber unter den Herren hier gilt Diebstahl, auch

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