Die Schmetterlingsinsel
jetzt offen an. Für einen Moment war es ihm, als hätte er wieder Richard Tremayne vor sich, zerschmettert auf einem Felsen. Vom Grauen gepackt, versetzte er dem jungen Mann einen Tritt, der ihn in die Grube beförderte. Durch das dumpfe Fallgeräusch meinte er ein Stöhnen zu vernehmen. Lebte er etwa noch?
Furcht wallte in Cahill auf. Noch einen Schuss wollte er aber nicht riskieren.
Wenn die Erde erst einmal auf ihm liegt, wird ihm das Stöhnen schon vergehen. Rasch machte er sich an die Arbeit und schaufelte fieberhaft den Sand in die Grube zurück.
In dieser Nacht begann es. Die Stimme des Toten, seine Anklagen und seine Drohungen kehrten zurück, als er sich zu seiner Frau ins Bett legte. Diese schlief schon seit langem, und da er Angst vor ihren Fragen hatte, verzichtete er darauf, sie zu wecken und zu fragen, ob sie es auch hörte.
Als Cahill die Augen schloss, sah er das Gesicht Vikramas wieder deutlich vor sich. Die Überraschung, als ihn die Kugel getroffen hatte, das ersterbende Licht in seinen Augen. Und er sah auch Richard Tremayne wieder. Überrascht und vorwurfsvoll, bevor er in den Abgrund stürzte.
Ich habe es tun müssen, wisperte er leise vor sich hin. Versteht ihr denn nicht? Ich musste es tun.
Doch die Stimmen ließen nicht von ihm ab. Flüsterten ihm Dinge zu, die er nicht hören wollte, geheime Begierden, schwarze Flecken auf seiner Seele, dunkle Erinnerungen. Die ganze Nacht lang hielten sie ihn wach, bis schließlich der Morgen anbrach und es Zeit wurde, seinem Herrn mitzuteilen, was geschehen war. Gewiss hatte er den Schuss in der Nacht gehört, und vielleicht ahnte er bereits, dass es das Problem nicht mehr gab.
Als er Stunden später im Arbeitszimmer seines Herrn saß, waren die Stimmen etwas leiser, so als wollten sie hören, was Tremayne dazu zu sagen hatte. Unterschwellig forderten sie ihn auf, auch den Mord an dessen Bruder zu gestehen, ein Mord begangen aus der tiefsten Überzeugung, dass es nicht gut sein würde, wenn Richards Sohn eines Tages das Ruder übernahm. Die Plantage musste in englischer Hand bleiben. Sie musste es einfach, weil es in Cahills Weltordnung keine Alternative gab.
»Ich nehme an, die Sache ist erledigt«, sagte Henry, ohne sich vom Fenster, vor dem er stand, abzuwenden. Heute wirkte er wesentlich ruhiger, gefasster. So als sei eine Last von seiner Schulter genommen. Dadurch, dass der Geliebte seiner Tochter fort war, konnte er sich einreden, dass alles in Ordnung war. Grace würde ihr Kind in England bekommen, versteckt vor aller Welt. Vielleicht konnte man das Kleine in die Obhut einer Kinderfrau geben und leugnen, dass es von ihrer Tochter stammte. Alles war möglich, wenn Grace erst einmal in England angekommen war.
»Ja, es ist erledigt.« Cahill zog ein Taschentuch aus seiner Jacke, wischte sich damit über die schweißbedeckte Stirn. »Ich habe ihn im neuen Teefeld verscharrt. War leichter, als ich gedacht habe.« Sein unsicheres Lachen echote verzerrt durch seinen Kopf.
»Und niemand hat Sie dabei beobachtet?«
»Niemand, Sir. Ich hatte erwartet, dass der Schuss wecken würde, doch das war nicht der Fall.«
Tremayne nickte zufrieden. »Gute Arbeit, Mr Cahill. Inzwischen wird meine Tochter in England angekommen sein. Wir werden schon eine Lösung finden, und Sie können sich als Verwalter wieder eingesetzt betrachten.«
»Vielen Dank, Sir, Sie sind zu gütig.«
Cahill ahnte nicht, dass er seine zurückgewonnene Stellung nicht lange würde genießen können. Schon zwei Wochen später verlor er den Kampf gegen die Stimmen in seinem Kopf. Da half es auch nicht, dass er sein schlechtes Gewissen, seine furchtbare Tat auf Papier gebannt hatte. Für die Geister der Toten war das nicht Entschädigung genug.
Nachdem er schreiend und nackt auf den Hof gelaufen war und damit den Teepflückerinnen sowie der gnädigen Frau einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, wies man ihn, nach gründlicher Untersuchung durch Dr. Desmond, in die Irrenanstalt von Colombo ein. Gefangen in einer Zwangsjacke, in einem dunklen Loch, durch das kaum Licht fiel, war Cahill den Vorwürfen und Beschimpfungen seiner Opfer hilflos ausgeliefert. Regelmäßige Morphium-Injektionen, die als Arznei dagegen gedacht waren, verstärkten die Stimmen noch, so dass ihm nichts weiter übrigblieb, als sich auszuliefern und seinen Geist und sein Wesen vollkommen aufzugeben.
Vannattuppucci Tea Company, 2008
Ein wenig verschlafen blickte Diana in den Spiegel. Cahills Aufzeichnungen
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