Die Schöne des Herrn (German Edition)
derjenigen umhüllt hatte, die jetzt unter der Erde verweste. Lächerlich in ihrer Jugend vor dem Spiegel, sang sie erneut die Arie aus der Pfingstkantate, besang die Ankunft eines göttlichen Königs.
***
Der Zugschaffner rief Nyon aus, und Adrien ließ die Scheibe herunter und lehnte sich hinaus. Sie fuhren an Arbeiterwohnungen vorüber, ein junges Mädchen am Fenster winkte, die Lokomotive stieß einen langen hysterischen Schrei aus, und ihr Dampf hatte den Schimmer von Feuer, neue Schienen glänzten und vervielfältigten sich, und reglose Güterwagen tauchten auf, einsam und traurig, und dann kam der Bahnhof, und der Zug wurde ermattet langsamer, stieß Dampf aus und blieb mit einem Seufzer stehen, während die Puffer der Wagen aneinanderstießen und die Schienen wie ein geprügelter Hund aufheulten. »Nyon«, leierte draußen eine unendlich melancholische Stimme.
Er lehnte sich noch weiter hinaus und lächelte vor Behagen. Acht Uhr dreißig. Fahrplanmäßig, bravo. Ausgezeichnet diese Schweizer Züge. Angenehm diese Züge, die pünktlich ankamen. Das war Nyon, letzter Halt vor Genf. In zwanzig Minuten Genf. Sobald der Zug wieder fährt, sich präsentabel machen. Sich gründlich abbürsten, alle Schuppen entfernen, Haar und Bart kämmen, gründlich die Nägel reinigen.
Die Lokomotive ließ wieder ihre irre Klage vernehmen, die Räder ächzten und rafften sich nach einigem Ruckeln und Geräuschen aneinanderschlagenden Eisens auf, und der Zug setzte sich in Bewegung. Acht Uhr einunddreißig, genau die im Fahrplan angegebene Zeit. Ankunft in Genf Cornavin um acht Uhr fünfzig! Zehn Minuten im Taxi nach Cologny! Er rieb sich wild die Hände. Um einundzwanzig Uhr, in neunundzwanzig Minuten seine Frau und das Glück! Donnerwetter, der Tee, den er ihr morgen früh ans Bett bringen würde!
»Guten Morgen, Zuckerschnäuzchen«, murmelte er auf dem Weg zur Toilette, wo er sich für sie schön machen wollte. »Gut geschlafen, mein Zuckerschnäuzchen, ausgeruht? Hier ist ein schöner Tee für mein Zuckerschnäuzchen!«
LXXII
Den untergegangenen Kleidern den Rücken zugewandt, vervollkommnete sie ihre Frisur, zuerst mit langen und kühnen Kammbewegungen, dann mit ganz kurzen, raffinierten, behutsamen, kaum angedeuteten, geheimnisvolle Striche und ganz zarte Liebkosungen, bestrebt, eine infinitesimale Vollendung zu erreichen, deren Sachdienlichkeit und Nutzen nur eine Frau verstehen und schätzen könnte. Das Ganze begleitet von Grimassen, Versuchen zu lächeln, Zurücktreten, Stirnrunzeln und langen prüfenden Blicken. Nachdem sie sich nach einer letzten unparteiischen Prüfung bezaubernd gefunden hatte, verließ sie das Badezimmer, wieder im Vollbesitz ihrer Seele und zuversichtlich hinsichtlich ihres Schicksals.
Doch im kleinen Salon ergab sich die Notwendigkeit einer erneuen Prüfung, denn hier, in dieser Beleuchtung wurde sie ja von ihm gesehen. Acht Uhr dreißig, es blieb ihr also noch genügend Zeit. Sie stellte sich vor den Ankleidespiegel, suchte gewissenhaft nach Unvollkommenheiten, musterte ihr Gesicht mit einem gründlichen und vertrauten Blick und gelangte nach diesem strengen Verhör zu einem Freispruch. Alles war gut, nichts brauchte verbessert zu werden. Die Lippen ausgezeichnet, die Nase nicht glänzend, das Haar in wohlüberlegter Unordnung, die Zähne strahlend, zweiunddreißig fest eingefügte Dinger zum Lachen, vollzählig und blendend weiß, die Brüste immer noch an Ort und Stelle, eine rechts, eine links, unerlässlich. Die Nase natürlich ein bisschen kräftig, aber das machte ja gerade ihren Charme aus. Übrigens hatte er ja auch eine ziemlich große Nase. Sie rückte eine Stirnlocke zurecht und schüttelte den Kopf, um das Zurechtgerückte zurechtzurücken und ihm ein natürliches Aussehen zu geben. Dann setzte sie, während ihre linke Sandale flach auf dem Boden blieb, die rechte Sandale zur Seite, wobei sie den äußeren Rand anhob, so dass die Sohle nur noch mit dem Innenrand auf dem Teppich ruhte, um sich in dieser Haltung, die sie für vorteilhaft hielt, zu vergewissern, dass das Kleid ihr wirklich gut stand und weder zu lang noch zu kurz war.
»Ich gratuliere«, schloss sie und verbeugte sich vor sich selbst.
Immer noch in den Spiegel schauend, probierte sie ein sanftes Lächeln und fand es gelungen. Dann nahm sie ihren Handspiegel, betrachtete darin ihren im Ankleidespiegel gespiegelten Rücken und stellte fest, dass alles perfekt war, vor allem unterhalb der Hüften. Und Achtung
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