Die schoene Helena
Nasenspitze.
„Wahrscheinlich müssen wir einander sehr viel erzählen“, meinte sie schläfrig.
„Heute Abend nicht. Schlaf jetzt, Liebes.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort, von tiefen Gefühlen bewegt: „Ruh dich aus.“
Als Helena am nächsten Nachmittag erwachte, entsann sie sich nur vage, was sie am vergangenen Abend erlebt hatte. Offenbar war sie aus dem Haus gegangen. Das bewiesen ihre ruinierten Schuhe. Und sie hatte ganz schrecklich gefroren.
Dann war Adam gekommen und so freundlich gewesen. Sie hatten sich versöhnt. Erleichtert atmete sie auf. Aber ihre Freude durfte sie nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass sie einen weiteren „Anfall“ erlitten hatte.
Etwas später, zur Teestunde, besuchte er Helena. „Heute siehst du viel besser aus“, behauptete er und zwang sich zu einem fröhlichen Ton. Leider war er kein so guter Lügner, wie er glaubte.
„Ja, ich fühle mich sehr gut.“ In Wirklichkeit war sie furchtbar verlegen. Am liebsten hätte sie sich auf seinen Schoß gesetzt, um seine Wärme zu spüren. Diesen Trost brauchte sie dringend.
„Spielen wir Karten?“, fragte er und zog ein Päckchen aus der Innentasche seines Gehrocks.
„Du musst mich nicht unterhalten.“
„Tee oder Schokolade, ein bisschen Gebäck?“, fragte er ungerührt.
„Weder noch, ich bin nicht hungrig.“
Jetzt schlug er einen herablassenden Ton an, der an ihren Nerven zerrte. „Darüber haben wir oft genug gesprochen, Helena. Du darfst dich nicht weigern zu essen. Wenn du aufgeregt bist, schon gar nicht. Du musst dich stärken.“
Impulsiv schob sie die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. „Hör auf! “, schrie sie. „Das ertrage ich nicht... diese Hätschelei! Ich bin kein Kind mehr. Und gewiss nicht wahnsinnig!“
Besänftigend umfasste er ihre Schultern. „Versuch dich zu beruhigen, Liebes. Leg dich wieder hin.“
„Nein!“ Wütend schüttelte sie seinen Arm ab. In ihren Zorn mischte sich beklemmende Angst. „Wenn du mich ins Bett bringen willst, dann tu’s wie ein Mann! Nicht wie ein Kindermädchen! Das alles habe ich so satt! Oh Adam, ich ...“ Schluchzend unterbrach sie sich.
In seinen Augen las sie Entsetzen und Furcht. Oh Gott, er hielt sie tatsächlich für verrückt.
„Helena!“ Flehend streckte er seine Hände nach ihr aus -große, kräftige Hände voller Schwielen, die von seiner Mitarbeit beim Wiederaufbau des Stalls zeugten. Die Hände eines ganzen Mannes, die sie berührt und ihr das Gefühl gegeben hatten, sie wäre schön ... eine geliebte, begehrenswerte Frau ... Und jetzt wollte er nicht nach ihr greifen, um sie zu liebkosen und zu erregen, sondern einfach nur, um sie ins Bett zu stecken wie eine Kranke.
Als sie zur Tür rannte, rief er ihren Namen im Ton einer entrüsteten Gouvernante.
„Lass mich in Ruhe!“, kreischte sie und stürmte in den Flur.
Eine neue Dienerin, an deren Namen sie sich nicht erinnerte, kam ihr entgegen, blieb abrupt stehen und starrte sie an. Stöhnend eilte Helena zur Treppe, die zu den Turmzimmern hinaufführte. Bald würde der ganze Haushalt Bescheid wissen - die verrückte Lady rannte am helllichten Tag im Nachthemd herum, floh vor ihrem treu sorgenden Ehemann, dessen zärtliche Aufmerksamkeiten nur eine Wahnsinnige zurückweisen konnte.
Rastlos betrat sie das Schulzimmer. Nun würde sie Trost in der Musik suchen, so wie ihr Vater im Whisky. Mit langen Schritten durchquerte sie den Raum. Bevor sie die Tür zum Nebenzimmer erreichte, fiel ihr Blick auf die Puppen, die im Regal saßen.
Da hielt sie inne, und ihr Atem stockte. Die verdammten ausdruckslosen Gesichter ... In der Kindheit hatte sie die Puppen geliebt und mit ihnen spielen wollen. Doch die Mutter hatte es niemals erlaubt. Sie seien zu teuer, zu kostbar, mahnte Portia stets, wenn die Tochter eine Puppe an sich drückte und ihr das Haar zerzauste.
Gehorsam setzte sie dann jedes Mal die Puppe ins Regal zurück, schaute die Mutter an und wartete auf jenes zufriedene Nicken, das ein Lob bedeutete. Von dieser widerwillig gespendeten Anerkennung wurde sie abhängig wie ein Säugling, der mit Laudanum versetzte Milch erhielt. Schließlich hatte sie den Puppen geglichen. Kostbar, niemals umarmt und geherzt, niemals geliebt.
Jetzt ergriff sie eine Puppe, starrte sie an und schleuderte sie mit aller Kraft zu Boden. Das schöne Porzellangesicht zersprang und enthüllte das Dunkel des hohlen Kopfs.
Innen waren die Puppen leer - völlig leer. Eine nach der anderen
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