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Die schöne Kunst des Mordens

Titel: Die schöne Kunst des Mordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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genommen hatte, sah er mich endlich direkt an. »Dexter«, begann er.
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Glaubst du, du könntest irgendwo Kaffee auftreiben? Und vielleicht Doughnuts oder so?«
    Die Bitte traf mich völlig überraschend – nicht, weil die Vorstellung so bizarr gewesen wäre, sondern weil sie mir so
schien
und mir doch so natürlich hätte scheinen müssen wie das Atmen. Es war schon einige Zeit nach Mittag, und ich hatte noch nicht gegessen. Ich hatte noch nicht einmal daran
gedacht.
Doch nun, da Chutsky es vorschlug, schien die Vorstellung falsch, so, als sänge man in der Kirche ein Sauflied.
    Doch zu widersprechen schien noch seltsamer. Deshalb erhob ich mich und sagte: »Mal sehen, was ich tun kann«, und marschierte aus dem Zimmer den Flur hinunter.
    Als ich ein paar Minuten später zurückkehrte, brachte ich zwei Becher Kaffee und vier Doughnuts mit. In der Tür zögerte ich, ich weiß nicht, wieso, und sah hinein. Chutsky hatte sich mit geschlossenen Augen vorgebeugt und drückte Deborahs Hand an seine Stirn. Seine Lippen bewegten sich, doch über das Klacken der lebenserhaltenden Maschinen konnte ich nichts verstehen. Betete er? Das schien denn doch äußerst merkwürdig. Ich vermute, ich kannte ihn wirklich nicht besonders gut, doch was ich über ihn wusste, passte nicht zum Bild eines Mannes, der betete. Auf jeden Fall war es peinlich, etwas, bei dem man nicht zusehen wollte, es war, wie jemanden beim Nasebohren zu beobachten. Auf dem Weg zu meinem Stuhl räusperte ich mich, doch er sah nicht auf.
    Abgesehen von einer lauten, fröhlichen Bemerkung, die zudem womöglich seinen Anfall von religiöser Inbrunst beendet hätte, blieb mir nichts Konstruktives zu tun. Deshalb setzte ich mich und nahm mir die Doughnuts vor. Ich war fast mit dem ersten fertig, als Chutsky endlich aufsah.
    »Hey?«, fragte er. »Was hast du da?«
    Ich reichte ihm seinen Kaffee und zwei Doughnuts. Er nahm mir den Kaffee mit der rechten Hand ab und spießte seinen Haken durch die Löcher der Doughnuts. »Danke.« Er klemmte den Kaffee zwischen die Knie und pulte den Deckel mit dem Finger ab, während er von einem am Haken baumelnden Doughnut abbiss. »Mhm. Ich hab noch nichts zu Mittag gegessen. Ich habe auf einen Anruf von Deborah gewartet und wollte dann vielleicht mit euch essen. Na ja«, sagte er und verstummte, dann biss er wieder von seinem Doughnut ab.
    Er aß schweigend, unterbrochen nur von einem gelegentlichen Schluck Kaffee, und ich ergriff die Gelegenheit, meine aufzuessen. Danach saßen wir beide einfach da und starrten Deborah an, als sei sie unsere Lieblingssendung. Hin und wieder produzierte eine der Maschinen ein seltsames Geräusch, und wir sahen flüchtig hin. Doch nichts veränderte sich. Deborah lag weiterhin mit geschlossenen Augen da, atmete langsam und rasselnd, untermalt vom Darth-Vader-Klang des Beatmungsgeräts.
    Ich saß dort mindestens eine Stunde, und meine Gedanken waren alles andere als hell und sonnig. Chutskys auch, soweit ich das beurteilen konnte. Er brach nicht in Tränen aus, doch er wirkte müde und ein bisschen grau, schlimmer, als ich ihn jemals gesehen hatte, abgesehen von damals, als ich ihn vor dem Mann rettete, der ihm Hand und Fuß amputiert hatte. Ich vermute, ich sah nicht sonderlich besser aus, obgleich meine größte Sorge nicht meinem Aussehen galt, weder damals noch sonst irgendwann. Ganz offen gesagt verbringe ich nicht gerade viel Zeit damit, mir Gedanken zu machen – Planung ist etwas anderes, die Gewissheit, dass die Dinge an meinen besonderen Ausgehabenden richtig laufen. Doch sich Sorgen zu machen scheint eher eine emotionale als eine rationale Aktivität, und bis jetzt hatte sie niemals meine Stirn gefurcht.
    Und nun? Dexter machte sich Sorgen. Eine verblüffend leicht zu erlernende Beschäftigung. Ich hatte den Bogen sofort heraus, und es war alles, was ich tun konnte, um mich vom Nägelkauen abzuhalten.
    Selbstverständlich würde sie gesund werden. Oder? »Noch zu früh, um etwas zu sagen!« klang stetig unheilvoller. Konnte ich dieser Aussage überhaupt vertrauen?
    Gab es eine Art Protokoll, eine ärztliche Standardprozedur, wie man den nächsten Angehörigen beibrachte, dass ihre Lieben entweder starben oder dabei waren, sich in Gemüse zu verwandeln? Begonnen mit der Warnung, dass vielleicht nicht alles in Ordnung sei – »Zu früh, um etwas zu sagen« –, um ihnen dann nach und nach zu vermitteln, dass nichts jemals wieder gut werde.
    Aber gab es nicht

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