Die schöne Parfümhändlerin
niemals verletzt.
Viel wusste Julietta immer noch nicht über ihn. Weshalb war er überhaupt nach Venedig gekommen? Vielleicht um die Mörder seiner Mutter zu suchen? Nach all den Jahren? Was wollte er von Leuten wie Ermano Grattiano? Oder von ihr? Und doch wusste ihr Herz alles über ihn. Sie waren einander ähnlich. Zwei verlorene Seelen, die irgendwo in der Welt Sicherheit suchten und sie doch nirgends fanden.
Plötzlich ergriff sie entsetzliche Angst. Wie ein eisiger Klotz lag sie ihr im Magen. Der Atem blieb ihr weg, sie konnte seine Berührung nicht mehr ertragen. Vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, löste sie sich aus seiner Umarmung und kletterte aus der Koje. Sie fand ihr Hemd zwischen all den achtlos abgelegten Kleidungsstücken und schlüpfte schnell hinein.
Luft. Sie brauchte Luft, zum Atmen und zum Nachdenken. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie Marcos brauchte und dass sie seelenverwandt waren, hatte sie getroffen wie ein harter Schlag in den Magen.
Sie zog einen Hocker unter das Bullauge, kletterte darauf und zerrte an der Verriegelung. Schließlich gab sie nach, und das dicke Glas schwenkte zur Seite. Eine frische, salzige Brise strömte in den stickigen Raum. Hier, auf der offenen See, roch sie sauber und belebend, sie besaß nichts von der schweren Süße, die über Venedigs Gassen und Kanälen hing. Das Stimmengemurmel, das sie über sich hörte, verriet ihr, dass ein Teil der Mannschaft auf dem Schiff geblieben war und Wache hielt.
Julietta starrte hinaus auf das weite, dunkle Wasser, in dessen Wellen sich das silberne Licht der Sterne brach. Wunderschön war es hier. So betörend, so trügerisch friedlich, so verlockend. Nun konnte sie sich erklären, weshalb Marcos das Meer so liebte.
Sie wollte sich nicht an ihn binden, nicht an einen Mann, der Geheimnisse hatte, nicht an einen Mann, der schon mit der See verheiratet war. Bindung bedeutete nur Schmerz und Trauer, und das Schicksal ließ sich nicht zwingen.
Sie schloss die Augen und sog die kalte Luft tief ein. Was wollte sie wirklich? Sie würde gründlich nachdenken müssen, um sich darüber im Klaren zu werden, aber viel Zeit blieb ihr nicht. In Augenblicken wie diesen wünschte sie sich, nur ein wenig von der hellseherischen Kraft ihrer Mutter zu besitzen.
Sie hörte ein Rascheln hinter sich, leise Schritte auf den Holzbohlen. Marcos war wach. Sie bewegte sich nicht, wartete, bis er ihren Körper in die Arme schloss.
Marcos küsste sie auf die Schläfe. „Wie lange seid Ihr schon wach?“, fragte er mit heiserer Stimme.
„Nicht lange. Ich wollte das Wasser und den weiten Horizont sehen. Es ist so wunderschön.“
Marcos legte sein Kinn auf ihre Schulter und blickte durch das offene Bullauge. „Fast so wunderschön wie Ihr.“
Unwillig schüttelte Julietta den Kopf. Ihr standen die Tränen in den Augen. „Macht nicht solche Scherze mit mir, Marcos.“
„Ich mache keine Scherze. Ihr seid wirklich wunderschön, Julietta. Die hübscheste Frau, die ich je gesehen habe.“
„Habt Ihr mich deshalb hierhergebracht?“
„Was meint Ihr?“
„Habt Ihr mich hergebracht, um mir zu schmeicheln, um mich in einen Rausch zu versetzen?“
Eine lange Weile stand Marcos regungslos da, nur seinen Atem spürte sie auf ihrem Haar. Schließlich öffnete er das Bullauge ganz weit und zeigte hinaus. „Ich habe Euch hergebracht, um Euch das zu zeigen.“
„Das Wasser?“
„Ja. Wisst Ihr, was das Meer bedeutet, Julietta?“
„Wellen, Fische, Algen?“
Er lachte rau. „Nicht nur das. Es bedeutet … Freiheit.“
Freiheit. Danach hatte sie sich immer gesehnt, ihr galt ihr ganzes Streben. Konnte er etwa ihre Gedanken lesen? Sie drehte sich jäh um und sah ihn überrascht an.
Er beobachtete sie genau. „Auf diesem Schiff sind wir alle frei, wir sind an keinen Staat, an keinen Herrn gebunden. Wir können segeln, wohin wir wollen, wir können alles sehen, was die Welt uns zu bieten hat. Unsere Namen, unsere Vergangenheit, unsere Verletzungen, hier sind sie alle belanglos.“
In Julietta stieg eine Welle schmerzlichen Verlangens auf. Frei sein, die Wunder der Welt sehen? Wieso kannte er ihre geheimsten Wünsche? Sie ließ sich gegen ihn fallen, und er schloss sie fest in seine Arme. So standen sie im rauen, starken Meereswind und waren für einen Moment eins mit der See, eins miteinander.
„Ich kann Euch das auch geben, Julietta“, wisperte er. „Ich bin kein reicher Mann, ich besitze weder Paläste noch Titel, aber ich kann Euch
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